Im Suhrkamp-Verlag erscheint Adornos Vortrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute«

Adorno auf dem Schulhof

Frühkindliche Pädagogik, Cliquenbildung verhindern, bei Hetzereien eingreifen: In seinem Vortrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« zeigte sich Theodor W. Adorno 1962 von seiner pragmatischen Seite.

Im Herbst 1962 nahm Theodor W. Adorno an einer Tagung des Deutschen Koordinierungsrats der Ge­sellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit teil, auf der er über die Bekämpfung des Antisemitismus sprach. Als Adorno seinen Vortrag hielt, war recht klar, wo der Antisemitismus sich damals mani­festierte: bei den alten und neuen Nazis und bei jenen Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft, die den Juden seit jeher eine »nicht fassbare«, verschwörerische Macht zuschreiben.

Gegen Ende der fünfziger Jahren häuften sich in der Bundesrepublik antisemitische Vorfälle, zum Jahreswechsel 1959/1960 wurden weit über 600 gegen Juden gerichtete »Schmierereien« registriert. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) sah sich 1961 genötigt, eine Ansprache zu halten, er beschwichtigte: »Im deutschen Volkskörper, im moralischen Leben des deutschen Volkes gibt es heute keinen Nationalsozialismus mehr«, lautete seine Kernausgabe. Den Begriff Antisemitismus erwähnte er nicht.

Rund sechs Jahrzehnte später bringt der Suhrkamp-Verlag Adornos Vortrag »Zur Bekämpfung des Anti­semitismus heute« als Buch heraus. Der Text ist bereits in den Gesammelten Schriften Adornos erschienen und eher beiläufig zur Kenntnis ­genommen worden. Das soll sich ändern: »Dieser Vortrag hat in seiner dichten und äußerst vielschichtigen Analyse nichts an Aktualität eingebüßt«, wirbt der Verlag, und weiter: »Vor dem Hintergrund der Schuldabwehr und des ›sekundären Antisemitismus‹ der deutschen Nachkriegsgesellschaft begreift Adorno den Antisemitismus als zentrales Bindemittel rechtsradikaler Bewegungen, das die diversen Strömungen ­eines militanten und exzessiven Nationalismus vereint.«

Adorno hofft bei der »Bekämpfung des Antisemitismus heute« vor allem auf die frühkindliche Erziehung.

Vor fünf Jahren hatte der Verlag bereits den Vortrag »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«, den ­Adorno 1967 vor dem Verband Sozialistischer Studenten Österreichs in Wien gehalten hatte, als Buch herausgebracht. Darin analysiert Adorno das Erstarken der 1964 gegründeten NPD. Der Band war ein Riesenerfolg, weil er half, den Aufschwung der AfD zu erklären. Bei dem vorliegenden Band ist die Parallele zur Ideologie der AfD weniger deutlich, weil der Antisemitismus zum einen nur ein Aspekt des Rechtsextremismus ist – wenn auch ein wesentlicher – und zum anderen nicht ausschließlich in der ­extremen Rechten zu finden ist.

Natürlich sorgt die permanente Radikalisierung der AfD für Unbehagen. Bei der Wählerschaft keiner ­anderen Partei sind einer aktuellen Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge antisemitische Einstellungen derart weit verbreitet. Doch es sind eben nicht nur die extremen Rechten, die für eine neue Welle des Judenhasses in Deutschland und anderswo sorgen; es sind auch sogenannte Querdenker, die an Verschwörungsmythen glauben und antijü­dische Stereotype bemühen, es sind radikale Islamisten wie die Terrorristen der Hamas, die Israel und alle Juden vernichten wollen, und es sind »linke« Antiimperialisten und Antizionisten, die Israel als kolonialistischen Apartheidstaat mit genozidalen Absichten darstellen.

Dem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma sind zwei Zitate vorangestellt; eines aus der »Dialektik der Aufklärung«: »Aber es gibt keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale Meinung sagen wollten.« Das andere stammt von den antiisraelischen Demonstrationen der jüngsten Zeit: »Free ­Palestine from German guilt« Hinter diesem Spruch können sich muslimische, linke und rechtsextreme Antisemiten gleichermaßen versammeln.

Absurderweise sind es gerade »linke«, antiimperialistische Gruppierungen, die wie sonst die Rechtsradikalen einen Schlussstrich fordern. In AfD-Kreisen spricht man in diesem Zusammenhang gern von »Schuldkult«, »Vogelschiss« (Alexander Gauland) oder fordert eine »er­innerungspolitische Wende um 180 Grad« (Björn Höcke).

Vor diesem Hintergrund ist Adornos Vortrag tatsächlich hochaktuell, wenngleich der »Zeitkern der Wahrheit« (Adorno in Anlehnung an Walter Benjamin) zu beachten ist. Viele Diagnosen passen im Besonderen nicht mehr zu den heutigen Zuständen, was gerade auf den ersten Seiten deutlich wird. Bild und Struktur der Familie haben sich verändert und damit auch die Gesellschaft an sich.

Hinzu kommt, dass zu dem Zeitpunkt, als Adorno den Vortrag hielt, die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik nur etwa 22.000 Juden zählten. Derzeit gehören den jüdischen Gemeinden mehr als 90.000 Mitglieder an, die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden ­Juden wird auf mehr als 200.000 geschätzt.

Zudem war die damalige BRD ein Land, in dem Millionen alter Nazis, Täter und Mitläufer den gesellschaftlichen Alltag prägten. Heute spielt die Tätergeneration keine Rolle mehr, der Antisemitismus ist jedoch geblieben und Adornos Definition trifft auf die Antisemiten, seien sie völkische Nationalisten, muslimische Terrorbefürworter oder antiimperialistische Antizionisten, gleichermaßen zu: »Antisemitismus ist ein Massenmedium; in dem Sinn, dass er anknüpft an unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen, Tendenzen, die er verstärkt und ­manipuliert, anstatt sie zum Bewusstsein zu erheben und aufzuklären. Er ist eine durch und durch antiaufklärerische Macht, trotz seines Naturalismus, und hat trotz seines Naturalismus auch von jeher im schroffsten Gegensatz zu der in Deutschland ­immer wieder beschimpften Aufklärung sich verstanden.«

Einen mittlerweile berühmten und oft bemühten Satz aus dem im Jahr 1966 gehaltenen Rundfunkvortrag »Erziehung nach Auschwitz« nimmt er ­nahezu vorweg: »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.«

Doch wie lässt sich Adornos Vortrag aus dem Jahr 1962 auf die heutige Zeit übertragen? Freilich kann man auf den knapp 50 Seiten keine tiefgreifenden Analysen erwarten, wie sie Adorno in seinem Hauptwerk »Negative Dialektik« – das zwischen 1959 und 1966 entstanden ist – oder in der 20 Jahre zuvor von ihm gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten »Dialektik der Aufklärung« anstellen konnte. Gerade auf letztere Schrift, die als programmatisch für die Kritische Theorie gilt, bezieht sich Adorno während des Vortrags mehrfach, insbesondere auf das Kapitel »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung«.

Adorno geht es hier aber weniger um die Wurzeln des Antisemitismus in der auf Warentausch beruhenden Gesellschaft, die es zu überwinden gelte, als vielmehr um das Phänomen und eben die »Bekämpfung« des latenten bis manifesten Antisemitismus. Er verfolgt einen pädagogischen, nicht philosophischen aufklärerischen Ansatz, um »das Schlimmste« zu verhindern. Einen mittlerweile berühmten und oft bemühten Satz aus dem im Jahr 1966 gehaltenen Rundfunkvortrag »Erziehung nach Auschwitz« nimmt er ­nahezu vorweg: »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.«

Eine wichtige Rolle spielt der autoritätsgebundene Charakter, der uns auch gegenwärtig als konformistischer Rebell vielfach entgegentritt: »Der autoritätsgebundene, der spezifisch antisemitische Charakter ist wirklich der Untertan, wie Heinrich Mann ihn darstellte, oder, wie man es schlicht auf gut deutsch sagt, die Radfahrernatur – charakterisiert durch eine gewisse Art des pseudorebellischen ›Da-muss-doch-endlich-was-geschehen, da-muss-doch-endlich-mal-Ordnung-geschaffen-werden‹; aber dann ständig bereit, vor den Trägern der wirklichen Macht, der ökonomischen oder welcher auch immer, sich zu ducken und es mit ihr zu halten.« Der autoritäre Charakter hat sich über veränderte gesellschaftliche Bedingungen ­hinweg erhalten.

Adorno hofft bei der »Bekämpfung des Antisemitismus heute« vor allem auf die frühkindliche Erziehung: »Die Struktur der Cliquen-­Bildung in der Schule insgesamt ist ein Schlüssel-Phänomen. Wie in einem Mikrokosmos bildet sich dann die Problematik der ganzen Gesellschaft ab.« Beim sich bereits manifestierenden Antisemitismus schlägt Adorno ein schnelles Eingreifen vor: »Antisemitischen Äußerungen ist sehr energisch entgegenzutreten: Sie müssen sehen, dass der, welcher sich gegen sie stellt, keine Angst hat.«

Antisemitismus ist das »Gerücht über die Juden« (Adorno). Ein Gerücht, das Auschwitz und die Niederlage Nazi-Deutschlands überdauert hat und nicht nur in der deutschen Nachkriegsgesellschaft fortlebt, sondern auch in der arabischen Welt seinen festen Platz hat.

Er geht neben dem völkischen ­Antisemitismus auch auf den damals wie heute grassierenden Antiamerikanismus und Antiintellektualismus ein, die er beide in Verwandtschaft zum Antisemitismus sieht. Man könne den Antiintellektualismus »heute auf Schritt und Tritt begegnen, keineswegs nur bei Rechtsradikalen, sondern bis tief in die Manifestationen eines sogenannten maßvollen ­Konservatismus hinein. Das hängt zusammen mit der deutschen ­Gestalt des Konformismus. Ich weiß, dass die Anti-Intellektuellen besonders wütend werden, wenn sie das Wort Konformismus hören, aber eben diese Wut auf das Wort bezeugt die Gewalt der Sache: dass der Konformismus seinen Dienst einstweilen noch ganz brav leistet.«

Der Vortrag endet mit den Sätzen: »Rassevorurteile jeden Stils sind heute archaisch und in schreiendem Widerspruch zu der Realität, in der wir leben. (…) Nun, wenn man diesen Widerspruch erst sich selber bewusst und dann auch anderen klar macht, kann man wirklich von Grund auf im Sinne dessen fortschreiten, was wohl nicht wahrer zu definieren wäre als durch den Willen: ›So etwas soll nicht noch einmal sein.‹«

60 Jahre später ist diese Warnung aktueller denn je, in Deutschland und anderswo auf der Welt. Jüdisches Leben ist akut gefährdet wie seit den frühen vierziger Jahren nicht mehr. Antisemitismus ist das »Gerücht über die Juden« (Adorno). Ein Gerücht, das Auschwitz und die Niederlage Nazi-Deutschlands überdauert hat und nicht nur in der deutschen Nachkriegsgesellschaft fortlebt, sondern auch in der arabischen Welt seinen festen Platz hat, wie das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 in grausamer Weise gezeigt hat. Und vor diesem Hintergrund ist die separate Publikation dieses Vortrages zu begrüßen. Er ist vor allem ein Aufruf zur Bekämpfung der Symptome. Wer sich mit der gesellschaftlichen Genese des Antisemitismus auseinander setzen möchte, sollte die Hauptwerke der Kritischen Theorie und jene Schriften lesen, die sich daran orientieren.


Buchcover

Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute: Ein Vortrag. Suhrkamp, Berlin 2024, 86 Seiten, 10 Euro