Die Partei PiS kämpft um ihren Machterhalt

Polen: Rechts und weiter rechts

Wenige Wochen vor der polnischen Parlamentswahl führt die in der bisherigen Regierung dominierende Partei PiS in den Umfragen, könnte jedoch wohl nur mit der rechtsextremen Konfederacja eine neue Regierung bilden. Die oppositionelle liberalkonservative Bürgerplattform agitiert wie ihre rechte Konkurrenz gegen Flüchtlinge.

Einen symbolträchtigeren Tag hätte sich die als Schwergewicht einer Koalition regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) nicht aussuchen können: Am 17. September, dem 84. Jahrestag des Einmarschs der Sowjetunion in Polen, veröffentlichte sie im Internet ein Video, in dem Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak (PiS) schwere Vorwürfe gegen den Vorsitzenden der liberalkonservativen Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, PO), Donald Tusk, erhebt: »Achtung! Die Tusk-Regierung war bereit, im Kriegsfall die Hälfte des Landes aufzugeben!«

Belegen sollten das ehemals streng geheime Verteidigungspläne aus dem Jahr 2011, als Tusk Ministerpräsident war. Ihnen zufolge hatte die polnische Armee im Falle eines Angriffs aus dem Osten Verteidigungslinien weit hinter der Grenze vorbereitet. »Der Plan zeigt es deutlich: Lublin, Rzeszów oder Łomża hätten das polnische Butscha werden können!«, sagt Błaszczak in dem Videoclip. Alle diese Städte liegen im Osten Polens, traditionell der Landesteil mit den meisten PiS-Wählern.

Dass die seit 2015 die Regierungspolitik bestimmende Partei PiS das Thema Landesverteidigung derart für einen Wahlkampfstunt ausschlachtete, empörte zahlreiche Beobachter – ein ehema­liger General nannte die Veröffentlichung der Verteidigungspläne sogar »Verrat«. Doch wenige Wochen vor der Parlamentswahl am 15. Oktober liegt das von PiS geführte nationalkonservative Parteienbündnis Zjednoczona Prawica (Vereinte Rechte) in Umfragen zwar mit bis zu 39 Prozent klar vor dem Bündnis um die PO, die Koalicja Obywatelska ( Bürgerkoalition, KO, 30 Prozent), beide Bündnisse könnten jedoch nur mit Koalitionspartnern eine Mehrheitsregierung bilden.

»Wer aus Afrika nach Polen will, geht zu unserer Botschaft, kauft ein gestempeltes Visum, gibt seine Daten an und los geht’s! Das ist die PiS- Migrationspolitik.« Donald Tusk, Vorsitzender der Bürgerplattform (PO)

Zur Rhetorik von PiS gehörte es seit Jahren, ihre Gegner als bedrohlich für Polen und illoyal darzustellen. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński nannte Tusk im August »die Verkörperung des reinen Bösen« und die Opposition »Verräter«. Tusk, von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rats, sei eine Marionette der EU-Bürokratie, heißt es bei PiS. Er habe in seiner Zeit als Ministerpräsident (2007 bis 2014) eine russlandfreundliche Politik betrieben – und vor allem Deutschland gegenüber sei er unterwürfig.

PiS selbst stehe dagegen für Souveränität und die Durchsetzung polnischer Interessen – gegen die EU, gegen Russland, und, im Konflikt um den Import von Getreide aus der Ukraine, sogar gegen die Regierung in Kiew. Und besonders gegen Deutschland: In einem PiS-Werbespot von Anfang September ruft ein Vertreter der deutschen Botschaft Kaczyński an und bittet ihn mit starkem deutschem ­Akzent, über eine Anhebung des Rentenalters in Polen zu sprechen. Der jedoch antwortet kühl: »Richten Sie dem Kanzler aus, dass die Polen über diese Angelegenheit entscheiden werden. Tusk ist nicht länger hier und diese Praktiken sind vorbei.«

Tatsächlich hatte die Regierung Tusk 2012 das Renteneintrittsalter auf 67 erhöht. Als PiS 2015 an die Macht kam, senkte sie es wieder. Solche sozialpolitischen Maßnahmen sind seit Jahren das Erfolgsrezept von PiS: Während der wirtschaftsliberale Tusk die unpopuläre Reform mit Verweis auf Wettbewerbsfähigkeit und den Staatshaushalt durchsetzte, nahm PiS sie zurück und verkauft das als Sieg der nationalen Souveränität.

Die Souveränität Polens zu schützen, heißt für PiS ganz zentral aber auch: Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, Afrika und Asien aus dem Land zu halten. Fast wie 2015 macht die Partei derzeit Stimmung mit Bildern von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen. Die Botschaft: Um Polen vor diesem Übel zu beschützen, helfen nur die strikte Ablehnung jeglicher Flüchtlingsverteilung auf EU-Ebene und hohe, stacheldrahtbewehrte Zäune wie an der Grenze zu Belarus.

»Tusk wollte so viele Migranten nach Polen lassen, wie Deutschland es ihm befiehlt«, sagt Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (PiS) in einem ihrer Werbespots. »Er wollte es einmal tun, er würde es wieder tun. Wir dürfen die Rückkehr dieses Schädlings nicht erlauben.«

Ironischerweise ist PiS bei dem Thema selbst in der Defensive. Die PO wirft der PiS-geführten Regierung vor, dass in den vergangenen Jahren in polnischen Konsulaten weltweit Hunderttausende Visa an Migranten verkauft worden seien, die damit nach Polen und den Schengen-Raum gereist seien. Die Regierung räumt bisher nur den Verkauf von einigen Hundert Visa ein, entließ allerdings bereits den stellvertretenden Außenminister Piotr Wawrzyk (PiS); die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen.

Tusk sieht in dem Visa-Skandal offenbar eine willkommene Chance, PiS beim Thema Migration von rechts zu attackieren. »Wer auch immer aus ­Afrika nach Polen will, geht zu unserer Botschaft, kauft ein gestempeltes Visum, gibt seine Daten an und los geht’s! Das ist die PiS-Migrationspolitik«, schrieb er auf Twitter.

Diese gegen Flüchtlinge gerichtete Rhetorik hilft auch der nationalistischen und rechtsextremen Partei Konfederacja Wolność i Niepodległość (Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit, kurz Konfederacja). Sie habe das Alleinstellungsmerkmal, Ressentiments nicht nur gegen afrikanische oder muslimische Flüchtlinge zu schüren, sondern auch gegen ukrainische, sagte Patrycja Wieczorkiewicz, eine der Chefredakteurinnen der linken Zeitschrift Krytyka Polityczna, der Jungle World. »PiS wird wohl nicht genug Parlamentssitze haben, um alleine eine Regierung zu bilden. Es bleibt also nur eine Koalition mit der Alt-Right, der Konfederacja. Davor haben wir alle gerade Angst.«

Der Aufstieg der erst 2019 gegründeten Konfederacja, die rechtslibertäre bis rechtsextreme Strömungen vereint und derzeit in Umfragen bei elf Prozent liegt, könnte die polnische Politik dauerhaft verändern. Zwar kündigt die Partei bisher an, im Falle unklarer Mehrheiten keine Regierungskoalition mit dem PiS-Bündnis einzugehen, sondern Neuwahlen zu fordern, doch sollte es zu einer Minderheitsregierung kommen, würde es dank ihr eine noch weiter rechts stehende Mehrheit im Parlament geben als bisher.

Eine Koalition aus dem PiS-Bündnis und Konfederacja hätte einige Widersprüche zu überbrücken: Während PiS für Sozialpolitik und hohe Renten steht, will die Konfederacja Steuern senken und Sozialausgaben kürzen. Die PiS-Wählerschaft ist eher älter, die Konfederacja hat bei den Jüngeren Erfolg – ihrem 36jährigen Co-Vorsitzenden Sławomir Mentzen folgen auf Tiktok fast 800.000 User. »Das Stereotyp, dass rechte Wähler ungebildet und vom Dorf seien, stimmt bei ihnen überhaupt nicht«, sagt Wieczorkiewicz. »Die meisten Unterstützer der Konfederacja sind gebildete Männer aus Großstädten und Unternehmer oder Ähnliches.«

Auffällig sei der »Gender Gap« zwischen den politischen Lagern, so ­Wieczorkiewicz. Die Zeitschrift Krytyka Polityczna wurde 2002 als Organ einer nicht mehr vom Realsozialismus geprägten, moderneren Linken gegründet. Ihre Leser seien deshalb – wie die Wähler linker Parteien – eher jung und weiblich, sagt Wieczorkiewicz, die ein Buch über die politische Ideologie der sogenannten Incels veröffentlicht hat. »Bei den Männern ist es andersherum, 40 Prozent der jungen Männer wählen die Alt-Right.«

»Die PO will sich als liberale Partei präsentieren, aber das ist sie nicht. Sie verbreitet auch rassistische Rhetorik, um den Leuten Angst vor Flüchtlingen zu machen.« Patrycja Wieczorkiewicz, Chefredakteurin von »Krytyka Polityczna«

Auch die PO kann den derzeitigen Umfragen nach nur hoffen, mit einer ebenfalls widersprüchlichen Koalition eine Regierung bilden zu können. Dazu müsste unter anderem das linke Parteienbündnis Lewica (Die Linke) kommen. Eine Traumkoalition wäre das für die polnische Linke nicht. »Die PO will sich als liberale Partei präsentieren, aber das ist sie nicht. Sie verbreitet auch rassistische Rhetorik, um den Leuten Angst vor Flüchtlingen zu machen«, sagt Wieczorkiewicz. »Sie war auch bereits acht Jahre an der Macht, hat aber damals viele Versprechen, beispielsweise bei Abtreibungs- oder LGBT-Rechten, nicht erfüllt.«

Das soll diesmal anders werden, verspricht die PO: Sie will nicht nur Steuern senken und ins Gesundheitssystem investieren, sondern verspricht, den illiberalen Staatsumbau der vergangen Jahre rückgängig zu machen und den Rechtsstaat wiederherzustellen. So will Tusk die Konflikte mit der EU beilegen, damit diese bislang blockierte Milliardenzahlungen an Polen freigibt. Außerdem verspricht er, die PiS-Kontrolle über die Medien zu beenden.

»PiS will die Medien kontrollieren wie Fidesz in Ungarn«, sagt Wieczorkiewicz. »Die Partei hat schon einmal versucht, ein Gesetz wie in Ungarn gegen die Finanzierung von Medien durch ausländische Stiftungen zu erlassen.« Das wäre besonders für ein linkes Medium wie Krytyka Polityczna bedrohlich, das zu großen Teilen von Stiftungen aus dem Ausland finanziert wird.

Am 4. Juni demonstrierten in Warschau Hunderttausende gegen die von der Opposition so genannte »Lex Tusk«, ein Gesetz, das die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung russischer Einflussnahme auf die polnische Politik vorsieht und gegen die Opposition verwendet werden könnte. »Es gibt zwar diese riesigen Proteste, aber viele Menschen haben das Gefühl, das Thema Rechtsstaat betreffe sie nicht, das ist weit weg. Ihnen sind andere Probleme wichtiger: Geld zu verdienen, ihre Kinder zu versorgen«, meint Wieczorkiewicz.

Am 1. Oktober will Tusk bei einem »Marsch einer Million Herzen« für die Rechte von Frauen sogar noch mehr Menschen als im Juni auf die Straße bringen. Für die polnische Linke ist es auch ein Problem, dass sich Tusk als Anführer einer breiten Front gegen PiS positioniert. »Vielen gefällt es nicht, dass wir auch die Opposition kritisieren, nicht nur PiS«, sagt Wieczorkiewicz. »Es gibt einen großen Druck, den Mund zu halten. Aber wir sind erstens Journalisten und zweitens Linke. Wir werden nicht aufhören, auch die PO zu kritisieren.«