Die polnische Armee patrouilliert an der Grenze zu Belarus

Aus der ganzen Welt nach Białowieża

Seit einigen Monaten ist die polnische Armee an der Grenze zu Belarus wieder präsenter. Tausende Flüchtlinge versuchen dort jedes Jahr den Grenzzaun zu überqueren.
Reportage Von

Nur wenige Hundert Meter entfernt von der Grenze verläuft ein Waldweg, der als Nordic-Walking-Pfad ausgeschildert ist. Von dort führt eine schlammige Straße zum Stahlzaun, der auf fast 200 Kilometern Länge Polen von Belarus trennt – mehr als fünf Meter hoch, gekrönt von Nato-Draht, zieht er sich durch den dichten Urwald, so weit das Auge blicken kann. Eine Kamera filmt dort die Straße, Schilder verbieten das Fotografieren. Tieffliegende Helikopter stören immer wieder die Stille des Waldes. Schließlich kommt ein großer Militärlastwagen die Straße heraufgefahren. Auf der Ladefläche sitzen dicht gedrängt Soldaten. Sechs von ihnen springen heraus, in voller Montur mit Helm und Gewehr. Langsam setzen sie sich in Bewegung und laufen den Grenzzaun ab.

Auf dem Rückweg ins nahegelegene Dorf Białowieża kommt ein SUV der polnischen Grenzpolizei von hinten angerast. Heraus springen zwei Grenzschutzbeamte und zwei Soldaten, auch sie mit Waffe in der Hand. Wer man sei, was man hier mache, warum man sich an der Grenze herumgetrieben habe, will ein düster blickender Grenzbeamter wissen.

Die Pässe werden eingesammelt. Während er sie telefonisch überprüfen lässt, stellte seine junge Kollegin ein paar forschende Fragen und macht Small Talk. Sie selbst hat nur einmal in ihrem Leben die Wisents gesehen, für die der Urwald hier – neben Bären und Wölfen – bekannt ist. Die Tiere seien scheu, früh morgens habe man die besten Chancen. »Und gibt es bei euch im Land auch solche Probleme mit Migranten?« fragt die Beamtin.

Im tiefen polnischen Urwald sind seit 2021 mindestens 49 Menschen gestorben.

Das winzige Dorf Białowieża liegt tief im gleichnamigen Urwald, direkt vor der polnischen Grenze zu Belarus – eine ruhige Gegend. »Deshalb sind wir hierhergekommen«, erzählen Jola und Jakub (die Namen wurden geändert) in einem kleinen Restaurant im Dorfzentrum. Jakub redet am meisten; Jola spricht fließend Holländisch, aber ihr Englisch ist nicht so gut. Lange haben sie im Ausland gearbeitet, »hier wollten wir einen ruhigen Lebensabend verbringen«, sagt Jakub.

Daraus wurde nichts. Im September 2021 zogen sie her, kurz darauf eskalierte die Lage in der Grenzregion. Plötzlich kamen Tausende Flüchtlinge aus Afrika und Asien über Belarus nach Polen. »Damals waren hier im Dorf mehr Soldaten als Einwohner«, erinnern sich Jakub und Jola. »Wir waren schockiert damals, als wir mitkriegten, wie die Polizei mit den Flüchtlingen umging, wie sie die Gesetze brachen«, sagt Jakub.

Das belarussische Regime hatte die Flüchtlinge damals nach Belarus gelockt und über die Grenze geschickt. Der Diktator Aleksandr Lukaschenko hatte gerade erst Massenproteste gegen sein Regime blutig niederschlagen lassen. Er wollte Druck auf die EU ausüben, die ihn mit Sanktionen belegt hatte. In der EU sprach man von »hybrider Kriegsführung«. Polen schickte das Militär an die Grenze und drängte die Flüchtlinge zurück nach Belarus. Viele Flüchtlinge wurden von einem Land ins andere getrieben und strandeten schließlich im Niemandsland, mehrere starben dort an der Kälte.

Das Netzwerk Grupa Granica – ein Zusammenschluss von lokalen Helfern und NGOs – betreibt eine Notrufnummer, an die sich Flüchtlinge per Whatsapp wenden können.

In Polen wurde damals in einer bis zu drei Kilometer breiten Zone entlang der Grenze der Ausnahmezustand verhängt. Das Dorf Białowieża lebt von Touristen, doch die durften nicht mehr kommen. Niemand, der nicht dort wohnte, durfte die Sperrzone betreten – keine Presse und keine humanitären Helfer. Mitte 2022 wurde der Grenzzaun fertiggestellt. Das Militär zog aus der Gegend wieder ab – bis es im Juni dieses Jahres zurückkehrte.

Zahlreiche Anwohner engagierten sich damals in der Flüchtlingshilfe. Auch Jakub und Jola fingen damit an und haben nicht mehr aufgehört. Sie gehen in die Krankenhäuser in der Umgebung, um dort Flüchtlinge zu beraten, die sich bei der Überquerung des Zaunes Beine oder Beckenknochen gebrochen haben, die sich am Nato-Draht verletzt haben oder im Wald fast erfroren oder verdurstet sind. Und sie gehen direkt in den Wald, wenn Flüchtlinge einen Notruf abgesetzt haben.

Das Netzwerk Grupa Granica – ein Zusammenschluss von lokalen Helfern und NGOs – betreibt eine Notrufnummer, an die sich Flüchtlinge per Whatsapp wenden können. Dann machen sich die Helfer auf den Weg. Jakub und Jola nehmen oft ihren Hund mit, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Die Grenzbeamten kennen uns«, sagen sie, »wir müssen aufpassen, dass sie uns nicht folgen, bis zu den Flüchtlingen.«

49 Menschen sind laut Grupa Granica seit Beginn der Krise im Wald gestorben, die Dunkelziffer könnte höher sein. »Das hier ist eine unwirtliche Gegend, oft wie ein Sumpf. Die Flüchtlinge nennen es Dschungel«, sagt Jakub. Manchmal seien die Flüchtlinge tagelang unterwegs. Die Helfer bringen trockene Kleidung, sauberes Wasser, Powerbanks für Handys, Schlafsäcke und kalorienreiche Nahrung. Ein großes Problem der Flüchtlinge ist der »Schützengrabenfuß« oder Immersionsfuß – wenn ein Fuß zu lange in nassen Schuhen steckt, wird die Haut weiß und weich. Werden die Gewebeschädigungen nicht behandelt, kann irgendwann nur noch eine Amputation helfen.

Der Zaun hält niemanden auf, er macht die Grenzüberquerung nur gefährlicher.

Seit drei Monaten sind die Soldaten wieder in der Gegend. Zuerst hieß es, sie seien hier wegen der russischen Söldnergruppe Wagner, die sich damals nach ihrem gescheiterten Putschversuch in Belarus niederlassen sollte. Inzwischen sagt die Regierung, sie seien wegen der Flüchtlinge hier.

Aleksandra Chrzanowska hält das alles für Wahlkampfspektakel. Sie arbeitet für die NGO Association for Legal Intervention, die zu Grupa Granica gehört. Die Regierung habe schon immer die Unwahrheit über die Lage an der Grenze erzählt. Nachdem der Bau des 180 Kilometer langen Grenzzauns im Juni vorigen Jahres abgeschlossen war, habe sie das Problem einfach für gelöst erklärt. »Sie haben so viel Geld für diesen Zaun ausgegeben, deshalb haben sie seitdem erzählt: Niemand kommt mehr, der Zaun funktioniert.«

Dabei halte der Zaun niemanden auf, er mache die Grenzüberquerung nur gefährlicher. »Erst kürzlich haben wir ein 17jähriges Mädchen gefunden, sie hatte 15 Zentimeter lange Wunden, man konnte die Knochen sehen«, sagt Chrzanowska. Die Schleuser und die belarussischen Einheiten, die weiterhin Flüchtlinge nach Polen schicken, würden den Flüchtlingen Leitern geben oder sie durch Flüsse über die Grenze schicken.

Verlässliche Zahlen gibt es nicht, doch die polnische Journalistin Zuzanna Dąbrowska schätzte in einer Analyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, dass diesen Frühling etwa 100 Menschen pro Tag versucht haben, die Grenze zu überqueren. Grupa Granica zähle nur die Menschen, die über den Notruf nach Hilfe fragen, sagt Chrzanowska. Dieses Jahr seien es bis August knapp 6.000 gewesen, etwas mehr als im vergangenen Jahr.

Im Frühling und Sommer kämen außerdem mehr als im Winter, weil die Grenzüberquerung weniger gefährlich ist, aber das sei die normale saisonale Fluktuation. »Dass die Regierung nun behauptet, es kämen plötzlich wieder deutlich mehr Flüchtlinge, weswegen man die Armee an die Grenze schicken müsse, hat allein politische Gründe«, sagt Chrzanowska. Im Wahlkampf versuchen die nationalautoritäre Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und die liberale Oppositionspartei Bürgerplattform (PO), einander darin zu übertrumpfen, wer am ehesten Flüchtlinge aus Polen fernhalten kann.

Kürzlich sorgte der Spielfilm »Grüne Grenze« der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland für Aufsehen, der von der Situation an der Grenze handelt. Noch bevor er in Polen im Kino zu sehen war, schrieb der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro auf X (früher Twitter), der Film sei wie die polenfeindliche Propaganda der Nazis.

Obwohl die Regierung also sehr dünnhäutig auf jegliche Kritik reagiert, geschieht nichts an der Grenze im Verborgenen. »Offiziell wird es zwar nicht Pushback genannt, was die Grenzbeamten machen, aber genau das ist es: illegale Pushbacks«, sagt Chrzanowska. Es sei Routine, dass Flüchtlinge, wenn sie erwischt werden, von den polnischen Grenzbehörden einfach wieder zurück nach Belarus gebracht werden. Das polnische Gesetz wurde geändert, um das möglich zu machen, »deshalb denken die Beamten wohl, dass es legal ist«. Doch diese Gesetzesänderung sei »selbst illegal, weil sie gegen die polnische Verfassung, gegen die Genfer Konvention und das EU-Recht verstößt«.

»Die Pushbacks funktionieren nicht«, davon sind Jakub und Jola überzeugt, »die Leute versuchen es einfach erneut, bis es klappt.« Die Regierung versuche, sie und die anderen Flüchtlingshelfer als Kriminelle darzustellen. »Aber ich bin kein Schmuggler«, sagt Jakub. Alle, die bei Grupa Granica in der Flüchtlingshilfe engagiert sind, folgen dieser Regel: Sie suchen die Flüchtlinge im Wald, sie versorgen sie, aber sie helfen niemandem bei der Reise. Das wäre illegal. Es habe zwar schon mehrere Strafverfahren wegen solcher Vorwürfe gegen Leute von Grupa Granica gegen, sagt Chrzanowska, aber die Anklage sei bisher immer fallengelassen worden.

In den geschlossenen Lagern sitzen die Flüchtlinge ein halbes Jahr bis maximal zwei Jahre, dann kommen sie entweder in ein offenes Lager oder werden abgeschoben.

»Wir wollen nur, dass niemand im Wald stirbt«, sagt Jakub. Hilfe zu leisten, sei nicht einfach, vor allem wenn sie im Wald Kinder auffinden, »das ist sehr schwierig«. Dort draußen im Wald hätten sie Menschen aus der ganzen Welt getroffen, aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak, Kongo, Eritrea, Sudan, Äthiopien, Indien, Kuba, der Côte d’Ivoire. Manche sprechen Sprachen, »von denen ich vorher nicht wusste, dass sie existieren, Tigrinisch zum Beispiel – das sprechen Millionen Menschen!« Sie könnten sich meistens mit Englisch behelfen, oder Google Trans­late auf dem Handy benutzen, im Notfall können sie einen Übersetzer anrufen.

Die wenigsten Flüchtlinge wollen einen Asylantrag stellen, weil sie Angst haben, dann nach Belarus zurückgebracht zu werden. Nur selten, wenn sich die humanitären Helfer vom Flüchtling eine juristische Vollmacht haben ausstellen lassen, wenn es Zeugen gibt, »können wir Pushbacks verhindern«, sagt Chrzanowska.

Wenn die Grenzbeamten den Asylantrag akzeptieren, werden die Flüchtlinge meistens in ein geschlossenes Lager gebracht. In einem solchen Lager in der kleinen Ortschaft Przemyśl nahe der ukrainischen Grenze hat es Anfang des Monats einen Hungerstreik gegeben. Agnieszka Chorodonska (der Name wurde geändert) zufolge handelte es sich nicht um den ersten, aber den bislang größten Protest dieser Art in einem solchen Lager. Sie arbeitet für eine NGO, die ebenfalls zu Grupa Granica gehört, und ist unter anderem in dem Lager in Przemyśl als Rechtsberaterin tätig.

Zuerst 100, dann 70 Flüchtlinge hätten an dem Hungerstreik teilgenommen; nach einigen Tagen sei die Polizei ins Lager gekommen, einige Insassen seien verhaftet, andere in Isolationshaft gesteckt worden – das hätten ihre Kontaktleute im Lager ihr erzählt, sagt Chorodonska. Direkter Auslöser des Streiks sei gewesen, dass »ein 26jähriger Junge versucht hat, Selbstmord zu begehen. Sein Freund hat das mitgekriegt, hat geschrien und geweint, bis die Wachen gekommen sind und ihn zusammengeschlagen haben.«

In den geschlossenen Lagern sitzen die Flüchtlinge ein halbes Jahr bis maximal zwei Jahre, dann kommen sie entweder in ein offenes Lager oder werden abgeschoben. Sie dürfen in der Zeit nicht hinaus, sie wissen oft nicht, wie lange sie dort bleiben müssen. Es gebe dort nichts zu tun: keine Sprachkurse, Handys seien verboten, der Internetzugang sei eingeschränkt. Der 26jährige, der versucht habe, Selbstmord zu begehen, sei ein koptischer Christ aus Ägypten gewesen, sagt Chorodonska. »Die wollen oft nach Polen, weil sie gehört haben, es sei ein besonders christliches Land.«