In Berlin gibt es offenbar immer mehr Obdachlose

Freiwillig obdachlosenfeindlich

Ein neuer Leitfaden sollte es dem Berliner Bezirk Neukölln leichter machen, Obdachlose zu vertreiben. Nach scharfer Kritik wird er nun überarbeitet. Viel spricht dafür, dass die Zahl der Obdachlosen in Berlin steigt. Auf angemessene Hilfe können sie nicht hoffen.

Dass es in Berlin immer mehr Obdachlose gibt, entspricht dem subjektiven Eindruck vieler Menschen, durch harte Zahlen lässt es sich nur schwer belegen. Ein Indiz dafür liefert die Berliner Stadtmission: sie hat im vergangenen Winter 3.700 Menschen in ihren Schlafeinrichtungen der Kältehilfe beherbergt, im Jahr zuvor waren es nur 2.699. Die Stadt schätzt, dass in Berlin insgesamt etwa 50.000 Menschen wohnungslos sind. In Notunterkünften seien im vergangenen Jahr 25.975 Menschen untergebracht gewesen.

Besonders im Bezirk Neukölln wird derzeit über den Umgang mit Obdachlosigkeit debattiert. Ein neuer Leitfaden der Bezirksregierung war auf scharfe Kritik gestoßen und soll nun überarbeitet werden. Er hätte es Polizei und Ordnungsamt leichter gemacht, Obdachlose von bestimmten Orten zu vertreiben. »Neukölln greift durch – Sperrzonen für Obdachlose!« hatte die Berliner Boulevardzeitung B.Z. getitelt.

Der »Leitfaden Obdachlosigkeit« war noch unter der Federführung des Neuköllner Sozialstadtrats Falko Liecke (CDU) entstanden, der im April zum Staatssekretär für Jugend und Familie im Senat aufstieg. Das Papier sollte der Bezirksverwaltung und Fachkräften der Sozialen Arbeit als Handlungsgrundlage dienen. Man wolle damit Verständnis für das Handeln des Bezirksamtes auch bei »strittigen Entscheidungen« wecken, hieß es in einer Pressemitteilung des Bezirksamtes.

Die Stadt schätzt, dass in Berlin insgesamt etwa 50.000 Menschen wohnungslos sind. In Notunterkünften seien im vergangenen Jahr 25.975 Menschen untergebracht gewesen.

Was damit gemeint ist, wird bei der Lektüre des Papiers schnell deutlich. Denn tatsächlich dreht sich der »Leitfaden Obdachlosigkeit« weniger um die Unterstützung der Betroffenen als um ihre Verdrängung und die ordnungsgemäße Durchführung von Zwangsmaßnahmen. Nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) haben wohnungslose Menschen in Berlin rechtlichen Anspruch auf eine Unterbringung durch den Bezirk. Wer ein solches Unterbringungsangebot nicht annehme, ist dem Neuköllner Leitfaden zufolge »freiwillig obdachlos«. Er listet zudem auf, unter welchen Umständen eine »Beendigung des Aufenthalts im öffentlichen Raum« möglich wird, also die Räumung des Wohnplatzes durch Ordnungsamt und Polizei.

Außerdem werden »besonders schützenswerte Orte« aufgeführt, an denen eine Räumung in der Regel »schnellstmöglich erfolgen« soll. Dazu gehören Friedhöfe, Spielplätze, Kindertagesstätten, Schulen und deren Umkreis. In diesen regelrechten Verbotszonen für Menschen ohne Obdach sollen Räumungen ohne weitere Abwägung möglich sein. Für wohnungslose Menschen aus dem EU-Ausland schlägt der Bezirk nach dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn« die Rückführung in ihr jeweiliges Herkunftsland vor. Bei EU-Bürgern könne in Einzelfällen sogar »ein Nichtbestehen des Rechtes auf Freizügigkeit« festgestellt werden, was eine Abschiebung ermöglicht.

Keine dieser Maßnahmen dient dazu, die Lebensumstände obdachloser Menschen zu verbessern und Angebote zu schaffen, die ihre Bedürfnisse ernst nehmen. Stattdessen wird Obdachlosigkeit als »Gefahr für die öffentliche Sicherheit« eingestuft. Als freiwillig obdachlos gilt jede Person, die ein Angebot einer Notunterkunft nicht angenommen hat oder »nicht ihre Einweisung in eine Unterkunft beantragt« hat.

Dabei hat das Ablehnen eines Hilfsangebotes meist wenig mit einer freiwilligen Entscheidung für das Leben auf der Straße zu tun, sondern eher mit den Zuständen in den Sammelunterkünften. Die meisten Unterkünfte verfügen nur über enge und überfüllte Schlafsäle, in denen es an jeglicher Privatsphäre fehlt. Oft kommt es zu Diebstählen, Belästigungen und Gewalt durch andere Übernachtungsgäste. Die gemeinsame Unterbringung mit dem Partner oder der Partnerin ist genauso wenig möglich wie das Mitbringen eines Hundes.

Das Ablehnen eines Hilfsangebotes hat meist wenig mit einer freiwilligen Entscheidung für das Leben auf der Straße zu tun, sondern eher mit den Zuständen in den Sammelunterkünften.

Noch prekärer ist die Situation in den Notunterkünften, wo der Aufenthalt nur in der Nacht möglich ist. Die Menschen müssen in den Abendstunden oft stundenlang anstehen und werden früh morgens mit ihrem gesamten Gepäck wieder auf die Straße gesetzt. Eine qualitative Befragung von 200 Obdachlosen, die kürzlich im Rahmen der Aktion »Zeit für Solidarität« durchgeführt wurde, ergab, dass viele Personen insbesondere Notunterkünfte meiden, weil sie als unsicher, unhygienisch und überfüllt gelten. Für Menschen mit Sucht­erkrankungen fehlt es in der Regel komplett an geeigneten Unterkünften. In den meisten Einrichtungen gelten strenge Konsumverbote, so dass ein Aufenthalt dort für Abhängige den kalten Entzug bedeuten würde.

Claudia Peiter, Sozialarbeiterin bei »Evas Haltestelle«, einer Tagesstätte für wohnungslose Frauen in Berlin-Wedding, betont im Gespräch mit der Jungle World die besondere Vulnerabilität von Frauen. Viele von ihnen hätten Gewalt durch Männer erlebt, so Peiter, und würden unter keinen Umständen in gemischten Unterkünften schlafen wollen – eher blieben sie über Nacht auf der Straße. Dadurch wiederum würden sie jedoch der Definition des Bezirksamtes Neukölln zufolge als »freiwillig obdachlos« gelten. Es gebe zu wenige Hilfsangebote nur für Frauen, ein Ausbau sei nicht abzusehen.

Der Zynismus des Neuköllner Papiers beschränkt sich nicht auf die Mär der »freiwilligen« Obdachlosigkeit. Darin wird nämlich die Stärkung und Zusammenarbeit mit der Straßensozialarbeit beschworen, doch Tabea Lenk, die als Straßensozialarbeiterin im Projekt Drop Out bei Gangway e. V. arbeitet, sagt der Jungle World: »Wir sind aus allen Wolken gefallen, als der Leitfaden veröffentlicht wurde.« Gangway wird in dem Leitfaden sogar namentlich als Ansprechpartner des Bezirksamtes genannt – gefragt oder gar in die Erarbeitung eingebunden wurde der Verein jedoch nicht.

Tatsächlich würden die Maßnahmen des Papiers, so sie zum Einsatz kommen, die Arbeit von aufsuchenden Projekten wie Drop Out erheblich erschweren. »Aufsuchend« bedeutet, dass Sozialarbeiter auf der Straße unterwegs sind und dort direkten Kontakt zu Obdachlosen aufbauen. Eine Räumung durch die Polizei bedeutet häufig, dass die Betroffenen Anlaufstellen, Kontakte und persönlichen Gegenstände überstürzt zurücklassen müssen. Für die Straßensozialarbeit sind sie dann oft nicht mehr auffindbar. Gemeinsame Vorhaben, wie zum Beispiel langwierige behördliche Anträge, verliefen dann oft im Sande, sagt Lenk. Sie betont, dass eine Verdrängung durch Räumungen keineswegs zur Beendigung der Wohnungslosigkeit beiträgt, sondern meist in der weiteren Verelendung der Betroffenen resultiert.

Der Arbeitskreis Wohnungsnot, an dem mehr als 60 Berliner Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe und weitere zivilgesellschaftliche Akteure beteiligt sind, übte ebenfalls scharfe Kritik an dem Leitfaden. Durch die dar­in enthaltenen Regeln für »besonders schützenswerte Orte« könnte die »Räumung wohnungsloser Menschen in großen Teilen Neuköllns legitimiert werden – eine Kita, eine Schule finden sich in vielen Straßen, ein Spielplatz quasi in allen Parks.« Notwendig sei eine Abkehr von rein ordnungspolitischen Antworten und stattdessen unter anderem den Ausbau der ganztägig zugänglichen Unterkünfte, die während der Covid-19-Pandemie eröffnet wurden, sowie Housing-First-Angebote, also Unterbringung in Wohnungen, ohne dass die Obdachlosen zuvor ihre »Wohnfähigkeit« in einem langwierigen Verfahren nachweisen müssten.

Das Konzept Housing First kehrt die bisherige Reihenfolge der Unterstützungsangebote um und verschafft Menschen im ersten Schritt eine eigene Wohnung, von welcher aus sie sich um alles Weitere kümmern können.

In den Ganztagsunterkünften erhalten Menschen langfristig ein Privatzimmer, das sie jederzeit nutzen können, sowie Mahlzeiten, Gesundheitsleistungen und Beratungsangebote. Das Konzept Housing First kehrt die bisherige Reihenfolge der Unterstützungsangebote um und verschafft Menschen im ersten Schritt eine eigene Wohnung, von welcher aus sie sich um alles Weitere kümmern können. Seit Ende 2018 konnte so Wohnraum an mehr als 120 Menschen vermittelt werden. Beide Angebote sind auf große Nachfrage gestoßen. Doch besonders für Housing-First-Wohnungen sind die Wartelisten sehr lang und die Berliner Stadtmission sucht derzeit noch eine Immobilie, um ihr Ganztagsangebot fortsetzen zu können.

In der Bezirksversammlung Neukölln kam die Kritik an dem Leitfaden offensichtlich an. Sogar die CDU-Fraktion gestand ein, dass der Leitfaden »nicht glücklich formuliert« war. Der Sozialausschuss beauftragte im Juni den Geschäftsbereich des Sozialstadtrats mit der Neufassung des Papiers. Daran sollen nun auch Träger der Wohnungsnotfallhilfe und Interessenvertretungen der Betroffenen beteiligt werden.

Die Einladung zur Mitarbeit an der Überarbeitung lehnte zumindest Gangway jedoch ab. Tabea Lenk und ihre Kolleg:innen sehen sich der Parteilichkeit für obdachlose Menschen verpflichtet. Es sei deshalb nicht ihre Aufgabe, gemeinsam mit dem Bezirksamt an einem Papier zu arbeiten. Stattdessen haben sie einen Forderungskatalog übermittelt.

Dafür ist inzwischen Lieckes Nachfolger zuständig, sein CDU-Parteikollege Hannes Rehfeldt. Schon im umstrittenen Leitfaden wurde festgestellt, dass die Obdachlosigkeit im Bezirk zugenommen hat. Diese Entwicklung wird sich wohl fortsetzen. In ihrer Stellungnahme schrieb der AK Wohnungslosigkeit, dass in Berlin »die Mieten und vor allem in den letzten Jahren die Lebenshaltungskosten deutlich« anstiegen, deshalb werde es »sehr wahrscheinlich zu einer Zunahme an Wohnungsverlusten kommen«.