Kulturpessimismus als politische Gefahr
Seit Jahren fördert die Regierung um den seit 2010 amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán die Verbreitung dessen, was sie »eurasische Idee« nennt: bei wissenschaftlichen Konferenzen, in regierungsnahen Tageszeitungen, in Gesprächssendungen im Fernsehen ist immer wieder von Regierungsmitgliedern zu hören, dass das politische System der Europäischen Union in seiner jetzigen Form in der Krise sei und zusammenbrechen könne, der Westen an politischem Gewicht verliere und eine neue Weltordnung mit Eurasien in ihrem Zentrum im Entstehen sei. Die Länder und Regionen des eurasischen Kontinents werden dieser Vorstellung nach kulturell, wissenschaftlich, wirtschaftlich und politisch immer enger miteinander kooperieren. Die Jahrhunderte des »atlantischen Zeitalters« seien vorbei, das eurasische Zeitalter beginne.
Konkret bedeutet das zunächst, dass Ungarn, auch gegen den Widerstand der Verbündeten in EU und Nato, die Beziehungen mit Russland und China vertieft, sowohl wirtschaftlich als auch zunehmend politisch. Ganz anders als beispielsweise der nördliche Nachbar Polen tritt Orbán für eine russlandfreundliche Politik ein. Ungarn war außerdem das erste EU-Land, das Mitglied der chinesischen Belt and Road Initiative (auch bekannt als Neue Seidenstraße) wurde, und wirbt darum, dass chinesische Firmen in Ungarn investieren.
Seit 2019 wachsen in Ungarn Institutionen, die das Wort Eurasien im Namen führen, wie Pilze aus dem Boden.
2021 wurde die Errichtung eines Ablegers der chinesischen Fudan-Universität in Budapest beschlossen, der Campus befindet sich derzeit im Bau. Kürzlich unterzeichnete Ungarn ein Abkommen zur »Zusammenarbeit in Justiz- und Sicherheitsfragen« mit China. Kritiker befürchten, dass auch die Stationierung von chinesischen Polizisten in Ungarn Teil dieses Abkommens sein könnte.
Das Schlagwort Eurasien steht aber in der Rhetorik der ungarischen Regierung für mehr als nur den pragmatischen Aufbau profitabler Beziehungen mit Russland oder China. Es steht im Zusammenhang mit einer grundlegenden Kritik am westlichen Liberalismus. Das richtet sich vor allem gegen die EU.
»Mein Plan ist nicht, Brüssel zu verlassen, sondern es zu übernehmen«, sagte Orbán zwar in einem Interview im vergangenen Dezember, aber eigentlich würde Ungarn die EU am liebsten verlassen, denn Menschen mit einem »normalen traditionellen Weltbild« wollten nicht in dieser EU bleiben. Die westliche Zivilisation mit ihrem Hedonismus, ihrer »Woke- und Geschlechtsangleichungs-Hysterie«, ihrer »Cancel Culture« und ihrer Befürwortung von Migration sei dem Untergang geweiht, meint Orbán. Ungarn bevorzuge dagegen das Traditionelle.
Seit 2019 wachsen in Ungarn Institutionen, die das Wort Eurasien im Namen führen, wie Pilze aus dem Boden. Den Anfang machte das Budapest Eurasia Forum, das seit 2019 jährlich stattfindet. 2021 wurde das universitäre Forschungszentrum Eurasia Center gegründet, das im kommenden April bereits zum sechsten Mal eine Konferenz mit dem hochtönenden Titel »Die Morgendämmerung Eurasiens« veranstaltet. Mitveranstalter ist dabei auch der Verein Ungarisch-Chinesischer-Freundeskreis.
Ebenfalls eine wichtige Rolle spielt das Thema Eurasien bei der Arbeit des regierungsnahen Mathias-Corvinus-Collegiums, einer akademischen Einrichtung, die die rechtskonservativen Ideen der Regierung propagiert. Noch deutlicher wird der staatlich finanzierte neurechte Think Tank Danube Institute. »Eurasianismus als Reaktion auf die globale Krise« heißt beispielsweise der Titel einer Veranstaltung aus dem vergangenen Jahr über die politische Ideologie des rechtsextremen russischen Ultranationalisten Aleksandr Dugin. Er vertritt die Vorstellung einer gegen die USA und gegen den westlichen Liberalismus gerichteten eurasischen politischen Ordnung unter Führung Russlands.
In den extremsten Ausformungen, wie den Ideen Dugins, folgt aus dem Eurasianismus imperiale Großraumpolitik. Aber auch dem Geschichtsrevisionismus der ungarischen Regierung gilt die »Muttererde im Karpatenbecken« als heilig, auch außerhalb der bestehenden Staatsgrenzen.
An den Begriff des Eurasianismus ist die Vorstellung eines illiberalen kulturellen und politischen Gegenentwurfs zur EU und zur liberalen Demokratie geknüpft. Ihm liegt der Mythos zugrunde, dass es eine zivilisatorische Einheit der eurasischen Nationen mit traditionellen Werten gebe, welche gegen die Verwestlichung, eine befürchtete Homogenisierung der Kulturen und andere Gefahren zu beschützen sei. Kulturpessimistische Vorstellungen und die Angst vor der Zerstörung traditioneller Werte befördern eine eschatologische Weltsicht, die um eine Einteilung der Welt in Gut und Böse und um Erlösungsversprechen kreist.
In den extremsten Ausformungen, wie den Ideen Dugins, folgt aus dem Eurasianismus imperiale Großraumpolitik. Aber auch dem Geschichtsrevisionismus der ungarischen Regierung gilt die »Muttererde im Karpatenbecken« als heilig, auch außerhalb der bestehenden Staatsgrenzen. Die Attraktivität solcher Vorstellungen besteht auch darin, kollektive Minderwertigkeitsgefühlen zu kompensieren.
Im Traditionalismus der ungarischen Rechtskonservativen enthalten ist auch der Abstammungsmythos der Ungarn aus dem »Urvolk« in Eurasien. So sind ungarische Nationalisten überzeugt davon, dass die Magyaren immer noch ein »Volk des heidnischen Ostens« geblieben seien, wo es seine Ursprünge habe. Obwohl sich der ungarische Konservatismus christlich definiert, neigte er schon immer zur Esoterik. Die Bedeutung solcher Ideen wie die eines urtümlichen Volksgeistes für den ungarischen Konservatismus wird oft unterschätzt.