Gegen die in Leipzig Eingekesselten wird unterschiedslos wegen Landfriedensbruch ermittelt

Wahlloses Kesseltreiben

Am ersten Juni-Wochenende war die Versammlungsfreiheit in Leipzig für Linke praktisch ausgesetzt. Höhepunkt des Ausnahmezustands war die bis zu elf Stunden dauernde polizeiliche Einkesselung von knapp 1.000 Menschen.

Mit Schlagstöcken hätten Polizistinnen auf jeden eingeschlagen – mit drastischen Worten schilderten mehrere Menschen der Jungle World ihre Erlebnisse im Polizeikessel von Leipzig. Am 4. Juni waren dort knapp 1.000 Menschen bis zu elf Stunden festgehalten worden. »Ich bekam einen Schlag ins Gesicht, ging zu Boden und war kurz bewusstlos.« »Meine 15jährige Tochter wurde bis 23 Uhr festgehalten. Sie wurde immer wieder abgetastet. Ich habe über Stunden nichts von ihr gehört.« »Zum Urinieren oder Tamponwechseln wurden sie in die Büsche geschickt.« »Die haben immer wieder in den Kessel gepfeffert. Unser Wohlergehen war ihnen egal.« »Meinem Sohn wurde in den Slip geschaut.« »Es stank nach Kot und Pisse, Menschen standen und saßen darin.«

Die Berichte der Menschen decken sich mit weiteren, beispielsweise vom MDR veröffentlichten Aussagen anderer Demonstrierender. Der Kessel von Leipzig steht wegen seiner Größe, Dauer und juristischen Fragwürdigkeit in einer Reihe mit den berühmten Hamburger und Frankfurter Kesseln aus den Jahren 1986 beziehungsweise 2013. Die gegen die Teilnehmer einer zunächst zugelassenen, dann aber ad hoc untersagten Demonstration verhängte Festsetzung fand an einem Wochenende statt, an dem Tausende Polizisten, die mit weitreichenden Sonderbefugnis­sen ausgestattet waren, auf den Straßen Leipzigs patrouillierten.

Seit Monaten hatten verschiedene Gruppen für den bundesweiten »Tag X« zu Protesten aufgerufen, das heißt für den Tag der gerichtlichen Verurteilung von Lina E. Am Samstag nach der Urteilsverkündung im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren sollte eine Demons­tration gegen staatliche Repression in Leipzig stattfinden. Doch die Stadt erließ eine Allgemeinverfügung, die für 48 Stunden alle Versammlungen untersagte, »welche sich inhaltlich auf den Antifa-Ost-Prozess bzw. dessen Angeklagte beziehen«, so der Wortlaut. Die Stadt begründete das Verbot mit einem hohen Aufkommen an Veranstaltungen wie dem Stadtfest und einem Konzert Herbert Grönemeyers sowie im Netz kursierenden Militanzaufrufen, vermeintlich von linker autonomer Seite.

Nahezu alle im Leipziger Kessel Festgesetzten wurden unterschiedslos wegen schweren Landfriedensbruchs angezeigt.

Diese Allgemeinverfügung beinhal­tete eine weitgehende Einschränkung des Versammlungsrechts. Aufgrund der sehr allgemein gehaltenen Formulierung hatte die Polizei in dem Zeitraum weitgehend freie Hand, verdachts­unabhängige Personenkontrollen durchzuführen und Platzverweise auszusprechen.

Die Polizei war an dem Wochenende mit 3.000 Beamten, zwei Hubschraubern, zehn Wasserwerfern und Räumpanzern im Einsatz. Der Leipziger Polizeipräsident René Demmler sagte später der Leipziger Volkszeitung: »Stärke zu zeigen, kann auch deeskalierend wirken.«

Am Freitag zuvor war es in einem Park bereits zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Vermummte warfen Flaschen und Steine, Polizisten verschossen Tränengas im Wohngebiet. Am Tag darauf waren bei der einzigen behördlich zugelassenen Demonstration, die sich für Versammlungsfreiheit einsetzte, fast 2.000 Teilnehmer dabei. Als die Polizei bekanntgab, die Demonstration nur als Kundgebung am Ausgangspunkt stattfinden zu lassen, versuchte eine Gruppe, aus dem sich bereits formierenden Kessel auszubrechen. Gegen 18 Uhr flogen Steine, Pyrotechnik und vermutlich ein Brandsatz. Daraufhin stürmten Polizeieinheiten aus allen Richtungen mit Schlagstöcken die Grünflächen, auf denen sich nicht nur Demonstranten befanden.

Die Polizei schien nicht gezielt eine bestimmte Gruppe zu verfolgen. Beim willkürlich anmutenden Kesseltreiben rannten die Beamten auch Journalisten um.

Die knapp 1.000 festgesetzten Demonstrationsteilnehmer mussten dann zum Teil bis fünf Uhr morgens ausharren, bis sie den Kessel nach schleppender erkennungsdienstlicher Behandlung verlassen durften. Laut Polizei befanden sich unter den Festgesetzten 80 Jugendliche und zwei Kinder, denen Augenzeugen zufolge keine bevorzugte Behandlung zuteil wurde. Die Polizei gab später an, dies sei wegen der allgemeinen Vermummung und mangelnden Kooperationsbereitschaft nicht möglich gewesen. Wasser gab es erst nach einigen Stunden, gespendete Nahrung sowie Rettungsdecken gegen einsetzende Kälte übergaben ehrenamtliche Demonstrationssanitäter. Für die Polizei wurde ein Toilettenwagen antransportiert, den Eingekesselten blieb nur ein Gebüsch.

Bis in die Morgenstunden agierte die Polizei hochaggressiv, trieb Leute aus­einander, die zur Unterstützung der Eingeschlossenen an Ort und Stelle waren. »Politische Äußerungen« seien zu unterlassen, so die polizeiliche Aufforderung. Nahezu alle im Kessel Festgesetzten wurden unterschiedslos wegen schweren Landfriedensbruchs angezeigt. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen versuchten Mordes aufgenommen. Grund sei der Wurf eines Molotowcocktails, hieß es von der Staatsanwaltschaft.

Auch Zivilbeamte sollen sich unter den Demonstranten befunden haben, als von dort aus Steine geschmissen wurden – vermummt und in szenetypischer Kleidung.

Juristen stellen die Rechtmäßigkeit des Polizeikessels in Frage, vor allem weil kollektiv 1.000 Menschen festgesetzt wurden, obwohl nur eine Minderheit Steine geschmissen hatte. Im »Verfassungsblog« beispielsweise nennt der Rechtswissenschaftler Tore Vetter von der Universität Bremen diese kollektive »Freiheitsentziehung« rechtswidrig: »Spätestens in seiner konkreten Ausprägung« habe der Kessel »in eklatanter Weise gegen verfassungsrechtliche Grundsätze« verstoßen.

Der Zeit zufolge kamen im Innenausschuss des sächsischen Landtags am Montag neue Informationen ans Licht. Demnach hätten sich Zivilbeamte unter den Demonstranten befunden, als von dort aus Steine geschmissen wurden – vermummt und in szenetypischer Kleidung.

Innenminister Armin Schuster (CDU) hat den Polizeikessel gegenüber dem MDR verteidigt und gesagt, Sachsen brauche ein »Konzept gegen Linksex­tremismus«. Im Freistaat läuft bereits der Wahlkampf für die Landtagswahl im Herbst 2024, bei dem die CDU aufs Thema »Linksextremismus« baut. Wenn alle der fast 1.000 nun Angezeigten in die Statistik politisch motivierter Straftaten von links eingehen, käme ihr das zupass. Für das Jahr 2022 waren 1.078 solcher Taten erfasst worden, von rechts waren es 1.904, hinzu kamen 3.174 Delikte, die laut Innenministerium »nicht den klassischen Bereichen politisch rechts oder politisch links« zuzuordnen seien, sich aber vor allem bei Protesten »im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, dem russischen Angriffskrieg und der Energiekrise« ereignet hätten – also vermutlich größtenteils dem rechten Milieu oder dem der sogenannten Querdenker zuzuordnen sind.

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) klagte nach dem Polizeikessel über »vollkommen durchgeknallte Straffällige in Connewitz«, eine Kritik an der Einschränkung von Grundrechten gab es von ihm nicht. Das linke Militanzritual aus brennenden Minibarrikaden und Scharmützeln mit der Polizei wurde am »Tag X« jedenfalls nicht verhindert. »Stärke zu zeigen«, wie der Polizeipräsident es ausdrückte, hat offensichtlich nicht deeskalierend gewirkt.