Wie Otze zum Spitzel wurde
Punk war in der DDR nicht verboten. Wirklich erlaubt war er allerdings auch nicht. Für Jugendkultur jenseits der sozialistischen Norm gab es im Prinzip nur einen Ort – und zwar ausgerechnet bei der evangelischen Kirche. Wolfgang Musigmann, ehemaliger Diakon in Erfurt und dort verantwortlich für die sogenannte Offene Arbeit, zählte zu den Ersten, die ihre Räume für die Punks öffneten. 1981 war er für das vermutlich erste Punkkonzert in der DDR verantwortlich.
An diesem Abend spielten unter anderem Schleimkeim aus Stotternheim, einem kleinen Dorf nahe Erfurt. Im Dokumentarfilm »Schleimkeim – Otze und die DDR von unten« von Jan Heck kommen Musigmann sowie ehemalige Bandmitglieder und Freunde von Dieter »Otze« Ehrlich, dem Sänger der Band, zu Wort. Sie erzählen, wie Punk in die DDR kam, wie die Staatssicherheit die Punks gängelte und warum sich das alles gerade am Beispiel von Schleimkeim und ihrem Sänger am besten erzählen lässt.
»Negativ-dekadent«, »politisch labil« und »fehlentwickelt« waren nur einige der Attribute, mit denen die Stasi die Punks belegte, weil sie dem Bild des sozialistischen Idealmenschen nicht entsprachen.
»Es war einfach Mucke, genauso wie wir aussahen: total zerlumpt, stinkend, überall Löcher. Der Haarstyle so, als hätte uns irgendjemand angefressen, weil wir ohnmächtig im Straßengraben mehrere Wochen lagen«, lacht Spinne in die Kamera. Er war eng mit Otze befreundet. Schleimkeim klangen seiner Ansicht nach sogar nochmal dreckiger als alle anderen Bands. Auch Steffen, Gitarrist bei Brechreiz 08/15, beschreibt Schleimkeim als das Radikalste und Härteste, was er jemals gehört hat. Otze habe Schlagzeug gespielt, »als wenn er ein Schwein abschlachtet«.
Provisorisch bastelte sich Otze sein erstes Schlagzeug unter anderem aus einer Schreibtischschublade und Plastikschüsseln zusammen. Sein Bruder Klaus, der erste Gitarrist der Band, baute sich sein Instrument mit Bowdenzügen vom Fahrrad. Als Tonabnehmer dienten alte Kopfhörer aus einem Panzerhelm und der Verstärker war ein altes Radio.
»Negativ-dekadent«, »politisch labil« und »fehlentwickelt« waren einige der Stasi-Attribute für die Punks
Obwohl die damalige Punkszene im engeren Sinne nicht politisch war, galt sie der DDR als Bedrohung. »Negativ-dekadent«, »politisch labil« und »fehlentwickelt« waren nur einige der Attribute, mit denen die Stasi die Punks belegte, weil sie dem Bild des sozialistischen Idealmenschen nicht entsprachen. Punk war das nihilistische Gegenprojekt, das dem tristen Alltag der DDR mit Spott und Verachtung begegnete. Schleimkeims Lieder zeugen davon, ihr Verfasser erst recht.
Otze versuchte sich an einer Lehre zum Stahlbauschlosser, stellte dort allerdings Schlagringe her und verkaufte sie an Fußball-Hooligans.
In einem Interview gab Otze einmal zum Besten, dass er nichts gegen Arbeit habe: »Ich find’s nur scheiße, andern dabei zuzuschauen.« Zwar versuchte er sich an einer Lehre zum Stahlbauschlosser, stellte dort allerdings Schlagringe her und verkaufte sie an Fußball-Hooligans. Sein damaliger Lehrmeister beschrieb ihn als »labil und zum Teil arbeitsscheu«. Der einzige feste Wohnsitz Otzes war der Bauernhof seiner Eltern in Stotternheim. Dort war er zwar monatelang nicht anzutreffen, nach seinen Eskapaden kehrte er aber stets dorthin zurück.
Im Film erinnern sich Otzes Freunde, dass er nach der Wende einmal sechs Monate im Treppenhaus des damaligen Kunsthauses Tacheles in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte lebte. In Archivmaterialien der Stasi ist Otze als Arbeitsverweigerer vermerkt, der nicht den Normen entsprach, eine westliche Lebenseinstellung zeigte und sich nicht am gesellschaftlichen und politischen Leben beteiligte. Alkohol war sein ständiger Wegbegleiter, nach der Wende sollten noch harte Drogen dazukommen.
»Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung«
In der DDR war diese Lebensweise inakzeptabel – mit so jemandem war kein sozialistischer Staat zu machen. Der Einfallsreichtum der Obrigkeit war dementsprechend grenzenlos, um Punks wie Otze zu gängeln. Mit bis zu zwei Jahren Haft drohte ihnen etwa der Paragraph 220 des Strafgesetzbuchs für »Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung«. Bereits ihr äußeres Erscheinungsbild lieferte Grund genug für Misstrauen.
Konzerte wurden zum Spießrutenlauf für die Punks und endeten nicht selten auf der Wache. Lippe, der später bei Schleimkeim Schlagzeug spielte, erinnert sich, wie er mal von der Polizei auf der Straße angehalten wurde. Obwohl sie ihn beim vollständigen Namen angesprochen hätten, habe er seinen Ausweis vorzeigen müssen. Weil er ihn nicht bei sich hatte, habe man ihn für 24 Stunden eingesperrt. Als er wieder raus durfte, habe das Spiel drei Straßen weiter von vorne begonnen. Geralf, der seine Zeit als Punk in Halle verbrachte, erzählt in der Dokumentation von seiner Haftzeit. Um die Zeit zu überstehen, sei er durch die Zelle gelaufen und habe laut seine Lieblingspunksongs gesungen.
»Wir begrüßen auch die Leute, die aus beruflichen Gründen hier sind«, habe es immer wieder in Ansagen bei Konzerten geheißen.
»Wir begrüßen auch die Leute, die aus beruflichen Gründen hier sind«, habe es immer wieder in Ansagen bei Konzerten geheißen, lacht Geralf. Denn auch auf den Konzerten standen die Punks unter Beobachtung. Zum Höhepunkt der Punkbewegung 1983 nahm die Schikane zu. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) begann, innerhalb der Szene vermehrt Informanten anzuwerben. Hagen, späterer Gitarrist von Schleimkeim, habe etwa auf der Arbeit immer wieder Besuch bekommen.
Als Schleimkeim 1983 als erste DDR-Punkband eine Schallplatte im Westen veröffentlichten, klopfte das MfS auch auf dem Bauernhof in Stotternheim an die Tür. Punkveröffentlichungen in der DDR waren nicht möglich. Keine der damaligen Bands hatte eine staatliche Erlaubnis, Musik zu machen.
Die Split-LP »DDR von unten« zusammen mit der Band Zwitschermaschine musste daher in der BRD gepresst und veröffentlicht werden. Ursprünglich sollten sich mehrere Bands an dem Projekt beteiligen. Aus Angst vor Repression sagten die anderen allerdings ab. »Otze war’s scheißegal«, erinnert sich Pankow, der Sänger von Planlos. »Daran zeigte sich schon seine Radikalität.« Die Songs von Schleimkeim liefen daraufhin sogar im westdeutschen Radio.
1983 kam die Band in Untersuchungshaft
In einem Bericht des MfS, der in der Dokumentation leider nicht erwähnt wird, heißt es, die Lieder von Schleimkeim seien »sehr primitiv gestaltete Entäußerungen einer pessimistischen Lebenshaltung mit anarchistischen Zügen, allgemeiner Unzufriedenheit und einer grundsätzlichen Opposition gegenüber der staatlichen Ordnung«. Dass diese Lieder nun in den Westen gelangten und damit das Bild der DDR, wie sie sich selbst gern sah, widerlegten, gefiel dem Staat überhaupt nicht. Am 29. März 1983 kam die Band in Untersuchungshaft.
Tatsächlich hatte man sich von Seiten der Staatssicherheit bereits seit 1981 um einen engeren Kontakt zu Otze bemüht, wie man beispielsweise in dem Buch »Satan, kannst du mir nochmal verzeihen« über die Band nachlesen kann. Man sah in ihm eine zentrale Figur der Szene, die inspirierend auf andere wirkte. Eine Einschätzung, die seine Weggefährten, die im Dokumentarfilm zu Wort kommen, durchaus bestätigen. »Er war der Anführer einer Räuberbande«, erinnert sich beispielsweise Otzes Freund Basti nostalgisch.
1999 tötete Otze seinen Vater mit einer Axt. Den Rest seines Lebens verbrachte er in einer psychiatrischen Klinik, wo er 2005 an einem Herzinfarkt starb.
Nach Otzes Entlassung war der Kontakt hergestellt. Zwei Jahre lang gab er der Stasi Auskunft über Treffpunkte, Namen und Adressen, Kneipen und Clubs der Szene. Es ist interessant zu beobachten, wie seine ehemaligen Begleiter im Film darüber sprechen. War man zuvor noch recht klar und verurteilte die Spitzeltätigkeiten anderer, wirken sie hier vorsichtiger und unsicherer in ihrer Beurteilung. Sie sind sich darin einig, dass durch Otzes Aussagen niemand zu Schaden gekommen sei.
Nach der Wende verfiel Otze den Drogen. Konzerte zu spielen, wurde immer schwieriger. Entweder war er nicht auffindbar oder er sagte den Auftritt spontan ab. Die meisten Lieder entstanden vor dem Mauerfall, nur wenige danach. 1999 tötete Otze seinen Vater mit einer Axt. Den Rest seines Lebens verbrachte er in einer psychiatrischen Klinik, wo er 2005 an einem Herzinfarkt starb.
»Schleimkeim – Otze und die DDR von unten« ist ein liebevoll gemachter Dokumentarfilm über die wichtigste Punkband der DDR. Leider kreist er aber ziemlich viel um sich selbst. Die Erinnerung und Anekdoten der Protagonisten liefern zwar ein eindrucksvolles und authentisches Bild der Band und der Szene – dabei fehlen aber kritische Distanz und ein Blick von außen, mit denen sich die Ambivalenz der Person Dieter »Otze« Ehrlich, die ihn so interessant macht, besser hätte fassen lassen. Eine stärkere Beschäftigung mit den Texten der Band im Kontext ihrer Entstehungszeit hätte zudem die Bedeutung von Punk in der DDR deutlicher zeigen können.
Schleimkeim – Otze und die DDR von unten (D 2023). Buch und Regie: Jan Heck.