09.11.2023
Judith Butler und die blinden Flecken postkolonialer Theorie

Der Elefant im postkolonialen Raum

Judith Butler blendet im Namen einer postkolonialen Gerechtigkeitsmoral der Trauer den Judenhass der Hamas aus, während sich auf Berliner Demonstrationen die erschreckenden Folgen des sogenannten Historikerstreits 2.0 zeigen.

Nach dem grausamen Pogrom der Hamas setzte, noch bevor der israelische Gegenschlag richtig begonnen hatte, eine Welle apologetischer und Israel beschuldigender Äußerungen aus dem linksakademischem Milieu und der Kulturszene ein. Für diese Relativierung und teils sogar die offene Rechtfertigung des antisemitischen Massenmords der Hamas und das Fehlen von Empathie für dessen jüdische Opfer machte eine ganzen Reihe von Texten vor allem die an den Universitäten etablierten postkolonialen Theorien und deren im Kulturbetrieb verbreitete Versatzstücke verantwortlich. Neben der notwendigen scharfen Kritik waren jedoch auch unzutreffende Pauschalisierungen über »den« Postkolonialismus zu lesen, die diese Strömung zusammen mit Gendertheorie, Queerfeminismus, Antirassismus, Intersektionalität und natürlich »woker« Identitätspolitik zu einem diffusen Einheitsbrei des Antisemitismus von links verrührten.

Sich gegen solche Pauschalisierungen zu wenden, kann jedoch nicht bedeuten, in reflexhafte Verteidigung zu verfallen. Vielmehr ist eine genaue und sachbezogene Kritik an postkolonialen Deutungsmustern des antisemitischen Terrors der Hamas nötig. Als eine der Ersten meldete sich die Philosophin Judith Butler mit ­einem längeren Text aus dezidiert postkolonialer Perspektive zu Wort. Zwar ist Butler bekanntlich eine der prominentesten Begründer:innen von Gender- und Queertheorie und keine Vertreterin des Postkolonialismus im engeren Sinn. Dennoch lassen sich an ihrem Text exemplarisch die Auslassungen postkolonialer Deutungen zeigen.

Butlers mehrfach wiederholte Verurteilung des Terrors der Hamas sollte dabei durchaus ernst genommen und nicht als bloßes Lippenbekenntnis abgetan werden. Die Pro­ble­me ihrer Argumentation beginnen gleichwohl schon mit dem Einstieg in den Text. Bereits in den ersten drei Sätzen beklagt Butler »die Grenzen eines Diskussionsrahmens«, der dazu führe, dass »man der ›Rela­tivierung‹ oder ›Kontextualisierung‹ beschuldigt« werden könne, wenn man auch die Gewaltgeschichte der israelischen Seite thematisiere. Erst danach verurteilt sie das »schreckliche und abscheuliche Massaker« der Hamas, um anschließend gleich wieder einen einseitigen öffentlichen Positionierungsdruck zugunsten der israelischen Seite zu beklagen. Es werde anscheinend »befürchtet, dass Wissen nur eine relativierende Funktion haben kann«. Was von der Behauptung zu halten ist, das Wissen um Gewalttaten der israelischen Seite und deren Repressionsgeschichte werde tabuisiert, zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf die tägliche Medienberichterstattung.

Judith Butler Plakat
Bild:
Archiv 2. Juni
Auch nur im Kontext verstehbar: Judith Butler hing früher mal in der »Jungle World«-Redaktion rum


Doch es geht Butler nicht um Vollständigkeit und Ausgewogenheit der Berichterstattung zum Kriegsgeschehen im Nahen Osten. Sie setzt vielmehr von vornherein einen Rahmen für ihre gesamte weitere Argumentation. Und dieser legt fest, dass es einen heftigen öffentlichen Druck zum Beschweigen der israelischen Anteile an der Gewaltgeschichte im Nahen Osten gebe, gegen den es anzukämpfen gelte. Nur durch Benennen der israelischen Gewalt als »Kontext« der Gewalttaten der Hamas werde so etwas wie eine ethisch integre Verurteilung derselben überhaupt möglich.

Diesen Zusammenhang behauptet sie nicht direkt, sondern legt ihn durch rhetorische Fragen und umkreisende Wiederholungsschleifen nahe, die von Formulierungen wie »Einschränkung«, »Grenzen des Sagbaren« oder Verweisen auf einen »zur Verfügung gestellten Diskursrahmen« geprägt sind. An einer Stelle wird sie jedoch deutlich: »Wenn wir glauben, dass die moralische Verurteilung ein klarer, punktueller Akt sein muss, ohne Bezug auf irgendeinen Kontext oder ein Wissen, dann akzeptieren wir unweigerlich die Bedingungen, unter denen diese Verurteilung erfolgt (…). In diesem jüngsten Kontext bedeutet das Akzeptieren dieser Bedingungen, Formen des kolonialen Rassismus zu reproduzieren, die Teil des strukturellen Problems sind.«

Zuvor hatte sie sich noch von dem zu trauriger Berühmtheit gelangten »Joint Statement by Harvard Palestine Solidarity Groups« distanziert, welches schon am 10. Oktober »das israelische Regime für die gesamte sich entfaltende Gewalt alleinverantwortlich« erklärte und kategorisch behauptete: »Einzig das Apartheidregime trifft die Schuld« an dem antisemitischen Massenmord. Wenn Butler diese Stellungnahme eine »inakzeptable Version der Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeiten« nennt, nur um als »Kontextualisierung« eine Zuweisung von Verantwortung an beide Seiten einzufordern, geht sie damit lediglich von der von ihr kritisierten kompletten Leugnung der Verantwortung der Hamas für »ihre eigenen Gewalttaten« zu deren Relativierung über.

Butler beklagt zudem eine ungleiche Achtung von israelischen und palästinensischen Leben und fordert daher einen »breitere(n) Rahmen der Trauer«, der »einem substantielleren Ideal der Gleichheit« dienen soll, »das die gleichwertige Betrauerbarkeit der Leben anerkennt«. Tatsächlich löst Butler jedoch die weltweit geäußerte Empathie mit den konkreten zivilen Opfern beider Seiten auf in eine abstrakt universalistische Gerechtigkeitsmoral, die auf einer ganzen Reihe von Ausblendungen beruht.

Gewalt thematisiert sie ausschließlich auf israelischer Seite konkret, wobei sie sie immer wieder mit den üblichen Attributen wie »Kolonialherrschaft«, »Rassismus« und »apartheidsartig« belegt und in drastischen Worten beschreibt. Den Angriff der Hamas dagegen nennt sie zwar einmal ein »schreckliches und abscheuliches Massaker«, sonst ist in ihrem Text diesbezüglich jedoch nur ab­strakt von Gewalttaten die Rede. Kein Wort über die Tötung von Babys und Greisen, die begangenen Folterungen, Vergewaltigungen und ­Verstümmelungen. Auch kein Wort dazu, dass die Hamas die Menschen in Gaza als menschliche Schutzschilde gegen die israelischen Militärschläge missbraucht und offenkundig auch eine hohe Anzahl ziviler Opfer in Gaza durch den provozierten israelischen Gegenschlag einkalkuliert hat.

Vor allem blendet Butler vollständig die islamistische Ideologie und den eliminatorischen Antisemitismus der Hamas samt deren historischem Kontext aus. Das Wort Antisemitismus kommt in Butlers Text genau ein einziges Mal vor: in Form einer larmoyanten Klage über den »böswilligen Vorwurf des Antisemitismus« gegen sie selbst. Insgesamt ergibt sich so eine gewaltige Verleugnung des politisch-ideologischen Charakters der Terrorgruppe.

Eine Erklärung von Lehrenden der US-amerikanischen Columbia University, die zu den wichtigsten akademischen Institutionen postkolonialer Theorieproduktion zählt, argumentiert zunächst ähnlich wie Butler, geht aber noch weiter. Sie solidari­sieren sich mit Studierenden, die eine offen apologetische Stellungnahme zu dem Hamas-Pogrom veröffentlichten und daraufhin einer Doxing-Kampagne ausgesetzt waren. Wörtlich heißt es: »Unserer Ansicht nach zielt die Erklärung der Studenten darauf ab, die Ereignisse des 7. Oktober 2023 neu zu kontextualisieren, indem sie darauf hinweist, dass die Militäroperationen und die staatliche Gewalt an diesem Tag nicht begannen, sondern vielmehr eine militärische Reaktion eines Volkes darstellten, das über viele Jahre hinweg erdrückende und unerbittliche staatliche Gewalt durch eine Besatzungsmacht ertragen musste.«

Die Erklärung haben zahlreiche prominente postkolonialistische Intellektuelle unterzeichnet, darunter Gayatri Spivak, Partha Chatterjee und Mahmood Mamdani. Hätten sich die Lehrenden darauf beschränkt, die öffentliche Denunziation von Beteiligten mit Namen, Bildern und Adressen zu verurteilen, wären sie lediglich ihrer Verantwortung für die Sicherheit der Studierenden nachgekommen. Doch die Erklärung spricht die Studierenden auch von jedem Anti­semitismusvorwurf frei und stimmt deren Pamphlet inhaltlich zu, indem sie den Hamas-Terror als »militärische Reaktion eines Volkes« auf »erdrückende und unerbittliche staat­liche Gewalt durch eine Besatzungsmacht« rechtfertigt.

Die Stellungnahme kommt einer intellektuellen und ethischen Bankrotterklärung gleich. Ihr Zustandekommen hat eine Menge mit den vielkritisierten blinden Flecken postkolonialer Theoriebildung zu tun, insbesondere mit dem Fehlen eines adäquaten Begriffs von Antisemitismus als einem spezifischen Feindbild beziehungsweise als Muster von Welterklärung. Stattdessen wird Antisemitismus meist unter Rassismus subsumiert. Längst ist der Postkolonialismus, der einst Ambiguität und hybride »dritte Räume« (Homi K. Bhabha) versprach, kaum mehr als eine poststrukturalistisch aufgehübschte Version eines manichäischen antiimperialistischen Weltbilds. Diesem Denkmuster zufolge kann Rassismus nur von den kolo­nialistisch und imperialistisch geprägten »weißen« Gesellschaften des Westens ausgehen, aber grundsätzlich nicht von deren Opfern.

Da Israel zugleich für kolonialistisch und »weiß« erklärt wird, ist es so gut wie ausgeschlossen, israelbezogenen Antisemitismus im linken, postkolonialistischen Antizionismus oder unter Muslimen anzuerkennen. Der ausgeprägte islamistische Antisemitismus wird so zum sprichwörtlichen elephant in the room, den auch Butler durch ihre rhetorischen Zaubertricks verschwinden lässt.

Doch es gibt auch Gegenbeispiele bekannter Theoretiker:innen des Postkolonialismus. Das zeigt zum Beispiel eine Auseinandersetzung, die der postkolonialistische Philosophieprofessor Lewis R. Gordon auf X geführt hat. Dieser ist als Herausgeber beziehungsweise Autor mehrerer wichtiger Bände zur postkolonialen Debatte über das Erbe Frantz Fanons bekannt. Ein »dekolonialer« Informatik- und Computerwissenschaftler hatte sich in inquisitorischem Tonfall darüber beschwert, dass Gordon zu den »Geschehnissen in Gaza« schweige. Der ließ sich davon zu einem Thread provozieren, in dem er zunächst zutreffenderweise darauf verwies, dass Fanon Israel unterstützt hatte, dafür innerhalb der algerischen FLN angefeindet worden war und niemals eine Gruppe wie die Hamas unterstützt hätte. In einem weiteren Tweet stellte Gordon klar: »Die Hamas ist nicht revolutionär. (…) Sie wollen die Region von Israelis und Juden sterilisieren.«

Der ausgeprägte islamistische Antisemitismus wird zum sprichwörtlichen »elephant in the room«, den auch Butler durch ihre rhetorischen Zaubertricks verschwinden lässt.

An dieser Auseinandersetzung wird zweierlei deutlich: zum einen, dass auch postkolonialistische Theoretiker, die wie Gordon im Antisemitismus eine Form von Rassismus sehen, durchaus in der Lage sein können, den eliminatorischen Antisemitismus der Hamas zu erkennen und zu benennen. Zum anderen belegt der shitstorm, den Gordon auf X neben spärlichem Zuspruch für seine Bemerkungen erntete, dass Positionen wie seine im gegenwärtigen Postkolonialismus in der Minderheit sind und durch die antiisraelische Bubble einem starken Konformitätsdruck ausgesetzt werden.

Judith Butler spricht in ihrem Text mit Blick auf die angebliche Tabuisierung des Begriffs »Besatzung« auch im Sinne der »Katechismus«-Thesen des Historikers und Gesinnungspostkolonialisten Dirk Moses von einem »deutschen Denkverbot«. Moses behauptet, die Deutschen hätten aus ihrer Vergangenheitsbewältigung einen quasireligiösen ­Katechismus gemacht, der im Namen der Singularität des Holocaust die ­Erinnerung an Kolonialverbrechen behindere sowie eine kritiklose Israel-Solidarität verlange, deren Einhaltung von »Hohepriestern« mit Inquisitionsmethoden überwacht werde.

Die Folgen solcher Thesen konnten am Tag des ersten Israel-Besuchs von Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Hamas-Massaker besichtigt werden, als sich eine Palästina-De­monstration zu friedlichem Protest vor dem Auswärtigen Amt niederließ. Ein Videoclip der Berliner Zeitung zeigte eine Menge junger Menschen, die aussah, als sei sie direkt aus einem kulturwissenschaft­lichen Seminar der nahegelegenen Humboldt-Universität zum Protest herüberspaziert, und kollektiv skandierte: »Free Palestine from German guilt!«

Wer angesichts dieser irgendwo zwischen Dieter Kunzelmanns »Judenknax« und rechtem »Schuld­kult«-­Geraune einzuordnenden Parole immer noch behauptet, die Beliebtheit der Thesen von Moses und seinen Unterstützer:innen im post­kolonialistisch gesinnten akademischen und Kulturmilieu fördere keine Relativierung der Shoah und habe auch nichts mit reflexhafter Schuldabwehr zu tun, betreibt schlicht Rea­litätsverweigerung.