Der Geheimagent ist das aufregende Pendant zum spießigen Kleinbürger

Reaktionäre Helden

Der Geheimagent ist das Gegenbild des biederen Kleinbürgers und ist diesem doch allzu ähnlich. In der Figur des verbeamteten Spions steckt das in einer verdorbenen Welt spielende Kind, das entdecken muss, lediglich gespielt worden zu sein.
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Früher war die Welt voller Engel und Dämonen. Sie flüsterten den Menschen etwas in die Ohren, sie wussten mehr von ihnen als diese selbst und sie kannten all ihre Schwächen und Geheimnisse.

Heutzutage ist die Welt voller Geheimagenten. Natürlich gab es von Anfang an und gibt es bis zum jüngsten Tag den Geheimagenten der Geheimagenten: den Teufel. Von Zeit zu Zeit sieht er, wie man weiß, den Alten gerne, und dann erstattet er ihm oder ihr Bericht. Erfüllt von der heimlichen Freude, ihm oder ihr unter die Nase zu reiben, dass es mit der Schöpfung im Allgemeinen und mit den Menschen im Besonderen nicht weit her ist.

Spätestens seit der Renaissance stellt man sich die fürstlichen Höfe als klebrige Netze von Intrigen, Verschwörungen, Verrat und Auskundschafterei vor, verbunden mit einer Prise Sex.

Geheimagenten sind vielleicht ein bisschen trivialisiert, ein bisschen säkularisiert, und trotzdem: Sie sind, die männlichen wie die weiblichen Exemplare, für das Engelhafte, Dämonische und natürlich das Teuflische in der Welt zuständig.

Aber Geheimagenten stehen auch in einer Geschichte von Politik, Ökonomie und Phantasterei. Verräter hat es immer gegeben, seit es etwas zu verraten gibt, seit die Tore einer Stadt des Nachts zu öffnen sind, seit der Anführer einer Revolte durch einen Kuss zu markieren war oder man den armen Jesse James in den Rücken schießen konnte, für eine Handvoll Dollar. Und auch Spione hat es wohl schon gegeben, seit man Pläne ausheckte, Befestigungen anlegte, Heiratspolitik betrieb.

Professionalisiertes Spitzelwesen

Spätestens seit der Renaissance stellt man sich die fürstlichen Höfe als klebrige Netze von Intrigen, Verschwörungen, Verrat und Auskundschafterei vor, verbunden mit einer Prise Sex. Denn wo es um Macht geht, können sich nicht einmal Liebende mehr vertrauen. Mr. und Mrs. Smith hießen damals Borgia. Attentäter und Saboteure gehörten einfach schon immer dazu und an der Schwelle zur Neuzeit, inmitten von Revolutionen und Restaurationen, entstanden auch staatliche Einrichtungen wie die geheime Polizei und die agents provocateurs. Das allfällige Spitzelwesen wurde professionalisiert.

Aber der Geheimagent, das ist eine andere Sache. Er oder sie unterscheidet sich von seinen oder ihren Vorläufern durch drei entscheidende Transformationen. Der Geheimagent entsteht zunächst aus dem klassischen Spion, indem dieser zum Staatsbeamten wird, auch im Sinne eines staatlich sanktionierten Terroristen (Doppelnull: Du darfst töten, wenn’s dem Vaterland dient). Deshalb geben James Bond und Mata Hari nicht nur verschiedene Geschichten, sondern verschiedene Genres ab.

Tatsache ist, dass der Apparat des Geheimagenten vor allem aus Sesselfurzern, Techno-Nerds und Kryptologen besteht.

Im Gegensatz zum Spion erhält der Geheimagent – dies ist die zweite Transformation – eine enorme technische und organisatorische Ausstattung. Seine Behörde, die natürlich selbst sehr geheim ist, versorgt ihn mit gadgets, Geld, gefälschten Papieren und Informationen. Tatsache ist, dass der Apparat des Geheimagenten vor allem aus Sesselfurzern, Techno-Nerds und Kryptologen besteht, das weiß man unter anderem von William Somerset Maugham, der für den britischen Geheimdienst gearbeitet hat und später einen semitragischen Geheimdienst-Helden schuf, eines der Urbilder des literarischen Geheimdienstlers, der mit der Wirklichkeit höchstens auf Umwegen zu tun hat.

Schließlich ist ein Geheimagent, wenn man seine Geschichten schreibt, nicht mehr geheim und kann deswegen auch nicht mehr agieren. Der Geheimagent agiert in den Logik-Löchern der Wirklichkeit. Sein Wirken ist derart geheim, dass es oft sogar seinen Auftraggebern verborgen bleibt. Wenn der Geheimagent eine Waffe in heißen wie in kalten Kriegen ist, dann ist es leichter, sie abzufeuern, als sie zu entschärfen.

Hochverrat ist eine Frage von Datum und Geld

Die dritte Transformation geht mit der Professionalisierung und Verbürgerlichen einher. Aus der Spannung zwischen der Agententätigkeit und dem »Privatleben« (der eine verliebt sich, der andere will seine Drogenabhängigkeit verbergen und die dritte träumt von einem bürgerlich-anständigen Leben) entsteht eine weitere Gefahr: Die Geheimnisse werden zu Waren; der Handel mit ihnen wird zu einem Markt. Aus dem Bösen und dem Heroischen wird das Triviale. Und Hochverrat eine Frage von Datum und Geld.

Die größte Mühsal besteht jedenfalls darin, den Geheimagenten unter Kon­trolle zu behalten. Das führt, so kennt man es aus dem Kino, immer wieder dazu, dass ein Geheimagent von seiner eigenen Organisation gejagt wird. Entweder, weil er selbst zum Geheimnisträger geworden ist, also vom Subjekt zum Objekt der teuflischen Jagd nach Informationen (das Gold und die Seele der neuen Teufeleien gleichermaßen); oder weil er sich zum Überlaufen oder zum doppelten Spiel entschlossen hat; oder auch – modernste Variante – weil er selbst nicht mehr weiß, wer oder was er eigentlich ist.

Denn neben Pistolen, Minifotoapparaten, Telefonen im Schuhabsatz oder Supermikrophonen ist das wichtigste Arbeitsmittel der Geheimagenten die Identität. Sie haben keine, das ist ihr Geheimnis, jedenfalls nicht im Dienst. Weil sie wie Hochstapler und Meisterdiebe in alle möglichen Rollen schlüpfen können, gelangen sie auch überall hin, wo Glamour, Gefahr und Sex einander begegnen. Heute schlürfen sie Martinis auf der Jacht eines Waffenschmugglers, morgen gehen sie mit dem Gegenagenten oder der Gegenagentin ins Bett und zwischendurch treiben sie Sport. Schließlich muss man als Geheimagent körperlich fit sein. Die gefährlichsten und wirksamsten Geheimagenten sehen allerdings eher aus wie nette alte Damen oder betagte Männer, die ihre Tage damit verbringen, Tauben im Park zu füttern.

Als Protagonist von Identitätslosigkeit in einer halluzinierten Welt ist der Geheimagent das Gegenbild des biederen und größtenteils reaktionären Kleinbürgers.

Da Geheimagenten keine wirkliche Identität haben, funktionieren sie auch nicht so wie normale Helden. Sie müssen ins Tragische, ins Komische oder ins Melodramatische ausweichen. Aber das kann nicht wirklich verbergen, dass es sich bei ihnen in Wahrheit um Psychopathen handelt. Was nicht viel ausmacht, weil das System, in dem sie sich bewegen, immer noch um eine Spur psychopathischer ist. Nichts ist hier, was es scheint, die Welt befindet sich stets in Auflösung, es handelt sich nicht um Verschwörungen, sondern um Verschwörungen innerhalb von Halluzinationen von Verschwörungen innerhalb terroristischer Verschwörungen innerhalb staatlicher Verschwörungen. Und so weiter.

Als Protagonist von Identitätslosigkeit in einer halluzinierten Welt ist der Geheimagent das Gegenbild des biederen und größtenteils reaktionären Kleinbürgers. Die beiden begegnen sich nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung und im Aufstiegsbegehren, sondern auch im prinzipiellen Misstrauen gegen den Rest der Welt. Wie der Kleinbürger muss auch der Geheimagent seine Sehnsucht nach der großen weiten Welt verschmelzen mit einem Vorurteil gegen alles, was fremd, anders und außerhalb ist. Was sich gemeinhin am einfachsten durch Serien von Gewalttaten bewerkstelligen lässt.

Bühne für Engel und Dämonen

Der Geheimagent war schon überall, und überall haben sich seine Vorurteile bestätigt. Seine Geschichten machen aus Vorurteilen Monster. Je länger er arbeitet, desto mehr allerdings bekommt seine kaputte Welt auch wieder den Charakter der Bühne für Engel und Dämonen. Das Einzige, was ein Geheimagent absolut nicht versteht, sind gewöhnliche Menschen. Deswegen sind diese in seiner Welt auch dazu verdammt, reihenweise zu sterben. Schließlich geht es dem Geheimagenten ums große Ganze.

Ein Geheimagent freilich ist nicht nur in einer (symbolisch-realen) Welt unterwegs, sondern auch in ihren Sprachen. Eine wichtige Aufgabe des Geheimagenten ist falsches Sprechen, beziehungsweise das Erkennen von falschem Sprechen. Ständig gilt es etwas zu dechiffrieren, Sprachrätsel zu lösen, Parolen und Decknamen zu durchschauen. Wenn kindliche Fans der drei Fragezeichen ein haptisches Geschenk erhalten, ist es ein Blechkästlein mit einem »Agenten-Set«, mit dem man Geheimcodes erzeugen oder erkennen kann.

Die Welt der Täuschungen duplizieren die Geheimagenten in einer Sprache der Täuschungen. Kein Wunder, dass alle Geheimagenten früher oder später durchdrehen. Dann läuft da einer durch die Bars und Hotel-Lobbys und erklärt jedem, ob er es hören will oder nicht, sein Name sei Bond, James Bond. Als könne er damit einen Rettungsanker der Identität ins Meer der Täuschungen senken.

Erst wenn die Gesellschaft um ihn herum ebenso reaktionär wird, wenn die psychopathisch-abenteuerliche Maske fällt und dahinter als geheimer »Kopf« der »Organisation« nur der tückische Hans-Georg-Maaßen-Spießer sichtbar wird, beginnt der Geheimagent, ernsthaft an sich selbst zu zweifeln.

James Bond ist das Paradoxon eines reaktionären »Helden«, der nur in einer liberalen Gesellschaft funktioniert. Erst wenn die Gesellschaft um ihn herum ebenso reaktionär wird, wenn die psychopathisch-abenteuerliche Maske fällt und dahinter als geheimer »Kopf« der »Organisation« nur der tückische Hans-Georg-Maaßen-Spießer sichtbar wird, beginnt der Geheimagent, ernsthaft an sich selbst zu zweifeln.

Wie in allen Helden der populären Kultur steckte ja auch in ihm das spielende und vielleicht das pubertierende Kind, das damit begonnen hat, die Lügen, Verdrängungen und Beschönigungen der Erwachsenen zu durchschauen. Das ist eine echte Scheißwelt, sagt unser reaktionärer Geheimagent in der liberalen Gesellschaft. Aber es gibt jede Menge Spaß und Action darin. Wenn wir ihm beim Erwachsenwerden zusehen, in den skeptischen und kritischen Phantasien zu seinem Gewerbe, die es ja auch gibt, dann erkennt er, welchen Preis er bezahlen musste. Er hat nicht gespielt, er wurde gespielt.

In der reaktionären Welt schließlich hat der Geheimagent überhaupt das Spiel und das Spielen verloren. Jetzt bleibt ihm nur noch, seine verlorene Identität um jeden Preis zurückzugewinnen, gegen alles und jeden. Beinahe. Aber vielleicht findet der Geheimagent genau in dieser Situation das, was ihm so fehlte. Das Menschliche.

Dann ist es natürlich zu spät. Und alles fängt wieder von vorne an. Die Geheimagenterei muss an ihren Ursprung zurück; der Geheimagent muss zurück ins Kinderzimmer. Ins Kinderzimmer der Bürgerwohnung; ins Kinderzimmer der Kulturgeschichte; ins Kinderzimmer der Weltenträtselung. Dorthin eben, wo noch nicht erkennbar ist, dass das die größte Lüge von allen ist: das Versprechen von Spaß und Action.