Interview

1999/19 Jelena Santic

»Rambouillet war ein Diktat des Westens«

Nach der Vertreibung von über 300 000 Serben aus der kroatischen Krajina gründete Jelena Santic 1995 die Belgrader Gruppe 484, benannt nach 484 Familien, die von der kroatischen Armee aus Ostslawonien vertrieben wurden. Santic kümmerte sich auch in den Folgejahren um Flüchtlinge aus allen Teilen des früheren Jugoslawien, in Belgrad leitet sie nun ein Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge, in dem Psychologen, Pädagogen und Soziologen an einer nationen-übergreifenden Betreuung der Kriegsopfer arbeiten. Während der Balkan-Kriege zu Beginn der neunziger Jahre schloß sich die Gruppe 484 mit anderen Organisationen im Center for Anti-War-Action zusammen, um auf antinationaler Grundlage gegen den Krieg zu mobilisieren.

1999/18 Wolfgang Gehrcke

»Die Nato abbauen, die Uno umbauen«

Sechs Wochen Krieg der Nato gegen Jugoslawien - sechs Wochen Opposition gegen den Krieg im Bundestag: Die PDS ist weiterhin die einzige der im deutschen Parlament vertretenen Parteien, die den Nato-Einsatz geschlossen ablehnt. Auch im Europa-Wahlkampf setzen die demokratischen Sozialisten auf ihr Anti-Kriegs-Image. "Europa schaffen ohne Waffen" heißt es einen Monat vor den Wahlen allerorten auf PDS-Plakaten. Und dann das: Ein internes Diskussionspapier führender Landes- und Bundespolitiker gerät an die Presse; auch die PDS, heißt es darin, müsse sich nun über eine "Neuakzentuierung" ihrer Außen- und Sicherheitspolitik Gedanken machen. Was das heißt, haben die Grünen vor vier Jahren vorgemacht - die Diskussion um "friedenserhaltende", "friedenssichernde" und "friedenserzwingende" Einsätze kann also beginnen. Der Anfang vom Ende der antimilitaristischen PDS?

Wolfgang Gehrcke ist Außenpolitischer Sprecher der PDS-Bundestagsfraktion.

1999/17 Nick Lowles

»Brixton gilt für Nazis als No-Go-Area«

Samstag nachmittag im Süd-Londoner Stadtteil Brixton. Auf einer der zentralen Einkaufsstraßen brach am vorletzten Wochenende Panik aus. Dreieinhalb Kilo Nägel hatte der Sprengsatz, als Paket getarnt und mit Zeitzündmechanismus in einer Einkaufstasche vor einem Geschäft abgestellt, am 17. April durch die Luft geschleudert. Mehr als fünfzig Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Selbst die auf die IRA fixierten britischen Sicherheitsbehörden schlossen diesmal eine nordirische Urheberschaft unmittelbar nach dem Anschlag aus. Knapp 48 Stunden später folgte der Telefonanruf: Ein Mann übernahm gegenüber der Polizei die Verantwortung für den Anschlag - im Namen der britischen Neonazi-Gruppe Combat 18. Eine Woche später das gleiche Bild im Stadtteil Shoreditch: Fünf Menschen wurden durch eine Autobombe verletzt; auch zu dieser Tat bekannte sich Combat 18. Trotz der Bekenneranrufe aber sind sich unabhängige Beobachter der militanten rechten Szene sicher, daß eine unmittelbare Beteiligung von Combat 18 zumindest bezweifelt werden muß. Nach Angaben von Scotland Yard ist mittlerweile noch ein weiteres Bekennerschreiben eines "Kommandorates der weißen Wölfe" aufgetaucht, hinter dem eine Gruppe von drei bis vier Personen vermutet wird.

Combat 18 war in den letzten zwei Jahren vor allem durch Briefbombenanschläge und gewalttätige Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Neonazis aufgefallen und gilt als vom britischen Sicherheitsapparat infiltriert. Die rechte Szene hat sich längst jenseits der Gruppierung organisiert: Neben den international agierenden Hammerskins und Blood & Honour-Strukturen, sind es vor allem rassistische Jugendgangs und Skinheadgruppen, die durch Übergriffe und Morde ein Klima von Unsicherheit und Angst für MigrantInnen schaffen.

Nick Lowles ist Mitherausgeber der internationalen antifaschistischen Zeitschrift Searchlight.

1999/16 Aca Singer

»Sie gehen aus Angst vor Bombardierungen«

"Das serbische Volk ist nicht schuldiger, als wir Deutschen es unter der nationalsozialistischen Diktatur waren", gesteht Bundestagspräsident Wolfgang Thierse großzügig zu; Außenminister Joseph Fischer äußert die Ansicht, die serbische Spezialpolizei sei "gewissermaßen die SS", und Verteidigungsminister Rudolf Scharping spricht von "Selektion" und von "Konzentrationslagern" im Kosovo. Was die wenigen Juden, die die nationalsozialistische Vernichtungspolitik im ehemaligen Jugoslawien überlebten, von einem solch inflationären und instrumentellen Reden von Auschwitz halten, das fragt keiner. Die mit 3 500 Mitgliedern mit Abstand größte jüdische Gemeinschaft im ehemaligen Jugoslawien befindet sich in Serbien. Aca Singer ist Präsident des Bundes jüdischer Gemeinden in Jugoslawien.

1999/15 Hermann Scheer

»Rambouillet war die Eröffnung des Krieges«

Miese Stimmung bei der SPD: Zu einer Zeit, da die Parteispitze eigentlich nur noch Deutsche kennen möchte, scheren einige Sozialdemokraten doch tatsächlich aus - und nennen auch noch die Gründe: Die Verhandlungsführer von Rambouillet mußten wissen, daß der Vertrag, welcher der serbischen Abordnung dort zur Unterzeichnung vorgelegt wurde, für keine Belgrader Regierung akzeptabel gewesen wäre, meint etwa Hermann Scheer, Bundestagsabgeordneter und Mitglied des SPD-Parteivorstands, und verweist auf den erst jetzt bekannt gewordenen Anhang des Vertrags. Die Nato, so kann man daraus schließen, ist bewußt auf das jetzige Bombardement zugesteuert. Und die Menschenrechte waren ihr dabei egal.

1999/14 Tichomir Ilievski

»Mazedonien ist kein Nato-Aufmarschgebiet«

Mehr als 100 000 Menschen aus dem Kosovo sind seit Beginn der Nato-Angriffe nach Mazedonien geflohen. Die Regierung fürchtet, daß der anhaltende Flüchtlingsstrom die "ethnische Balance" in dem 2,2 Millionen Einwohner zählenden Land zerstören könnte.

Gleichzeitig sind bereits 13 000 Nato-Soldaten in Mazedonien stationiert. Sie sollten ursprünglich ein mögliches Friedensabkommen im Kosovo überwachen. Jetzt könnte das Land mit einer 221 Kilometer langen Grenze zum Kosovo Ausgangspunkt eines Nato-Bodenkriegs gegen Jugoslawien werden.

Tichomir Ilievski ist Staatssekretär im mazedonischen Außenministerium in Skopje.

1999/13 Christian Ströbele

»Meine Fraktion hat allergisch reagiert«

Am Abend des Kriegseintritts war für die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen erst einmal Feiern angesagt: "ÖEP" hieß das Motto - die "Ökosteuer-Einstiegsparty ab 19 Uhr im Bundeshaus HT 12 - Weil gutes Klima kein Schönwetter-Projekt ist". Einer von denjenigen, die sich nicht beim "Stehempfang mit rot-grünem Büffet" vergnügen wollten, während in Belgrad die ersten Marschflugkörper einschlugen, war der grüne Abgeordnete Christian Ströbele aus Berlin. Er bereitete währenddessen einen Redebeitrag und eine Resolution "Die Luftangriffe sofort beenden!" vor, mit denen er und sechs Mitstreiter es sich am nächsten Morgen endgültig mit ihrer Fraktionsspitze verderben sollten.

1999/12 André Brie

»Die SPD muß der Hegemon sein«

Der 1950 in Schwerin geborene Brie trat 1969 der SED bei, ein Jahr später begann er aus eigenem Entschluß, mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst zusammenzuarbeiten - ein Kontakt, den die Stasi 1989 abbrach. Da hatte der Politologe gemeinsam mit seinem Bruder Michael und dem heutigen Leiter des PDS-Programm-Kommission, Dieter Klein, bereits damit begonnen, an der Berliner Humboldt-Universität an Reformkonzepten für den DDR-Sozialismus zu arbeiten. Die Überlegungen des Trios sollten später die Grundlagen der programmatischen Plattform in der SED/PDS bilden. Anfang 1990 wurde Brie in den Parteivorstand der SED-Nachfolgerin PDS gewählt, übernahm die Leitung des Wahlbüros und der Kommission "Politische Bildung". Als "Reformer" in der PDS forderte er seine Partei immer wieder zur Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte auf und geriet dabei vor allem mit den Vertretern der Kommunistischen Plattform aneinander. Zuletzt, als er im Januar behauptete, die DDR sei in bestimmten Aspekten "totalitärer" als der Nationalsozialismus. Auf dem Europa-Parteitag der PDS wählten ihn die Delegierten auf Platz zwei der Liste für die Europawahlen. Daneben leitet Brie weiterhin das Wahlbüro der PDS.

1999/11 Christian Pfeiffer

»Wer unsicher ist, fühlt sich bedroht«

Empörung in Ostdeutschland: Ausgerechnet der Ostalgiker liebstes Kind, das Kindergartensystem der DDR, soll mit schuld sein daran, daß heute für einen Ausländer östlich der Elbe das Risiko, überfallen zu werden, 25mal so groß ist wie im Westen. Die Erziehung zu Ordnung, Disziplin und Sauberkeit, so die These von Christian Pfeiffer, habe die Herausbildung autoritärer Charaktere begünstigt, die dann auch erheblich öfter gewalttätig werden. Die Theorie ist nicht neu, doch Pfeiffer hat keine Ruhe mehr, seit die Magdeburger Volksstimme sie publizierte. Durchschnittlich dreißig empörte Anrufer aus dem Osten zählt der Kriminologe aus Hannover seitdem jeden Tag. Zu einer Veranstaltung in der Magdeburger Pauluskirche kamen am Mittwoch vergangener Woche mehr als tausend Besucher, der größte Teil von ihnen in der Absicht, dem Westler mal ordentlich die Meinung zu sagen.

1999/10 Rolf Gössner

»Rot-Grün sichert die DNA-Analyse ab«

Die rasante Entwicklung bei der Entschlüsselung des menschlichen Genpools nährt bei Kriminalisten die Hoffnung, bald aus Körpersekreten oder winzigen Partikeln, die an einem Tatort gefunden werden, auf das Äußere des Täters und sogar auf seine "Charakterstruktur" schließen zu können. Der Preis dafür: Mit immer mehr sogenannten Massen-Screenings wird die individuelle Erbsubstanz zunehmend zum Objekt der Begierde von Strafverfolgungsbehörden. Ein rot-grüner Entwurf für ein DNA-Identitätsfeststellungsgesetz setzt dieser Entwicklung nichts entgegen, sondern schafft ihr im Gegenteil einen passenden gesetzlichen Rahmen. Der Bremer Rechtsanwalt Rolf Gössner beschäftigt sich seit langer Zeit mit Angriffen auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht und hat in diesen Fragen Bündnis 90 / Die Grünen beraten.