Zäune und Lager made in EU
Wer im Blick behalten wollte, was deutsche Politiker zuletzt vom Asylrecht noch übrig lassen wollen, hatte in den vergangenen Wochen viel zu tun. Der Überbietungswettbewerb begann damit, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) von einem »historischen Momentum« (übersetzt: historischen Schwung) gesprochen hatte, um in der EU ein »gemeinsames Asylsystem auf den Weg zu bringen, wo an den Grenzen die Asylverfahren stattfinden«. Darauf hat die Ampelkoalition sich geeinigt – inklusive der grünen Kabinettsmitglieder.
Seit 2014 wird die Novellierung des Asylrechts in der EU diskutiert, zuletzt machte die EU-Kommission dafür 2020 konkrete Vorschläge. Einer der wichtigsten betrifft die Verlegung der Asylverfahren an den Außengrenzen, die Faeser erwähnt hat. Die Idee stammt von Deutschlands ehemaligem Innenminister Horst Seehofer (CSU). Er hatte sie während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 in die Beratungen der EU-Innenminister eingebracht. Die Grünen waren damals strikt dagegen.
Internierung an den Außengrenzen
Das Prinzip: Die ankommenden Flüchtlinge werden direkt an den EU-Außengrenzen in Lagern interniert. Dort gelten sie als offiziell nicht in die EU eingereist. Dann wird geprüft, wer für ein Asylverfahren in Frage kommt und wer nicht. Dafür sollen zwei Kriterien gelten: Zum einen die EU-weite durchschnittliche Anerkennungsquote für das jeweilige Herkunftsland – die dürfe nicht unter 20 Prozent liegen, so der Vorschlag der Kommission. Deutschland will als Abschwächung nun einen etwas niedrigeren Schwellenwert durchsetzen.
Als die Ampelparteien 2021 die Regierung bildeten, versprachen sie im Koalitionsvertrag, sie wollten »das Leid an den Außengrenzen beenden«. Zwei Jahre später klingt das ganz anders.
Das zweite Kriterium soll sein, ob die Betroffenen über einen sogenannten sicheren Drittstaat – die Türkei könnte beispielsweise als ein solcher gelten – eingereist sind oder selbst aus einen sicheren Drittstaat stammen. Wenn ein Flüchtling zu einer Gruppe mit geringer Anerkennungsquote gehört oder über einen sicheren Drittstaat angereist ist, soll ihm allenfalls ein Asylschnellverfahren ermöglicht werden. Bei einer Ablehnung werden die Antragstellerinnen und Antragssteller direkt aus den Haftlagern abgeschoben. Die Reform soll als Teil des »Gemeinsamen Europäischen Asylsystems« bis Februar 2024 beschlossen werden.
Als die Ampelparteien 2021 die Regierung bildeten, versprachen sie im Koalitionsvertrag, sie wollten »das Leid an den Außengrenzen beenden«. Zwei Jahre später klingt das ganz anders. Im Deutschlandfunk sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) Anfang Mai auf die Frage, ob seine Partei einer FDP-Forderung nach neuen Grenzzäunen an den EU-Außengrenzen zustimmen könne: »Die Antwort ist ja.« Dabei ist nach Angaben des EU-Parlaments die Länge der »physischen Barrieren« an den EU-Außengrenzen zwischen 2014 und 2022 bereits von 315 auf 2 048 Kilometer gewachsen. Der Bundesregierung reicht das offenbar noch nicht.
Eine alte Idee von Otto Schily
Kurz zuvor hatte sich der Omid Nouripour, der Co-Vorsitzende der Grünen, offen für die vorgeschlagenen Asylverfahren an den EU-Außengrenzen gezeigt. Und Habecks Partei- und Kabinettskollege, Bundesagrarminister Cem Özdemir, könnte sich gar EU-Asylverfahrenszentren in der Türkei vorstellen, wenn diese »wieder zu einem Rechtsstaatspartner wird«, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung.
Statt der von Faeser angekündigten Verfahren an der Grenze des EU-Territoriums oder zusätzlich zu ihnen sollen sich also auch Transitstaaten im Auftrag der EU um die Flüchtlinge kümmern. Die Idee ist alt. Sie stammt aus dem Jahr 2004, von dem damaligen deutschen Innenminister Otto Schily (SPD). Bislang wollte noch kein Nachbarstaat der EU dabei mitmachen. Die Bundesregierung aber hat seit Januar mit dem FDP-Politiker Joachim Stamp einen »Sonderbevollmächtigen für Migrationsabkommen«, der genau das aushandeln will.
»Ideal wäre es, dass wir ein Partnerland fänden, in dem Asylverfahren menschenrechtskonform von UN-Organisationen durchgeführt würden«, sagte Stamp am Wochenende der Welt am Sonntag. »Europa würde diesem Partnerland die anerkannten Asylbewerber abnehmen und anderen aufzeigen, wie sie sich regulär für den europäischen Arbeitsmarkt bewerben können.« Wer weder anerkannt noch als nützlich erachtet werde, müsse in sein Heimatland zurückkehren.
Die Menschenrechte als Kern der Rechtsordnung werden auch über das Asylrecht hinaus in Frage gestellt.
Man muss davon ausgehen, dass nur ein Bruchteil der Schutzsuchenden in solchen Lagern mit ihrem Asylantrag Erfolg haben wird. Klagen gegen Ablehnungen wären kaum möglich. Die Abgelehnten könnte man allerdings auch oft nicht abschieben, zum Beispiel weil sie aus Diktaturen oder Kriegsgebieten stammen. Sie würden letztlich dem jeweiligen Transitstaat überlassen bleiben. Die stehen den Plänen der EU-Kommission entsprechend ablehnend gegenüber.
Es versteht sich von selbst, dass die Union in dieser Dauerdebatte nicht abseits stehen möchte und mit noch schärferen Vorschlägen aufwartete. So sagte Jens Spahn, einer der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden, »im Bewusstsein darüber«, dass dies ihm »wieder tausend Shitstorms bringt«, vergangene Woche in der ZDF-Talkshow »Markus Lanz«: »Vielleicht müssen wir tatsächlich mal darüber nachdenken, ob die Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention so noch funktionieren.« Die Frage sei, ob die aus den fünfziger Jahren stammende Flüchtlingskonvention im Jahr 2023 noch sinnvoll sei »mit diesen individuellen Verfahren, monatelang, ohne Klarheit für alle Beteiligten und mit den Botschaften, die sie sendet«.
Ob Orbán bald das Folterverbot in Frage stellt?
Auf Deutsch heißt das: Ein grundsätzliches Recht auf Asyl soll es nicht mehr geben, allenfalls freiwillige Aufnahme. Schlimmer noch: Die Menschenrechte als Kern der Rechtsordnung werden so auch über das Asylrecht hinaus in Frage gestellt. Was soll beispielsweise einen Viktor Orbán daran hindern, auch die Frage zu stellen, ob die Versammlungsfreiheit oder das Folterverbot »so noch funktionieren«?
Die EU-Kommission versucht derweil, beim Asylrecht einen sogenannten Solidaritätsmechanismus dauerhaft zu etablieren, über den andere EU-Mitglieder entweder Aufnahmeplätze anbieten können oder ersatzweise Geld- oder Sachleistungen bereitstellen müssen. »Ungarn könnte einfach die libysche Küstenwache bezahlen – und hätte damit seine Verpflichtung im Solidaritätsmechanismus erfüllt«, sagt dazu der EU-Abgeordnete Erik Marquardt (Grüne).
Für den bereits seit Juni 2022 in einer Testphase befindlichen freiwilligen sogenannten Verteilmechanismus hätten sich bereits 13 EU-Staaten gemeldet, heißt es bei der EU-Kommission. Über diesen sollen zunächst bis Mitte dieses Jahres 12 000 Menschen aus Italien und Zypern umverteilt werden. Allerdings wird dies nur äußerst schleppend vollzogen. So hat Deutschland bis Ende April nur 744 Personen übernommen, davon 525 aus Italien und 219 aus Zypern. Das zugesagte deutsche Kontingent umfasst 3 500 Plätze.
Pro Asyl kritisiert die EU-Reformpläne scharf. »Selbst wenn Schutzsuchende den systematischen, illegalen Pushbacks entkommen«, sähen sie von der EU in Zukunft nur noch »Mauern, Stacheldraht und Sicherheitspersonal«, so die NGO. Unter haftähnlichen Bedingungen seien faire Verfahren unmöglich: »Die Menschen sind oft noch von der Flucht traumatisiert und in einem psychischen Ausnahmezustand, eine Inhaftierung belastet sie zusätzlich und wirkt wie eine Bestrafung dafür, einen Asylantrag gestellt zu haben.« Schon heute sei in entsprechenden Pilotprojekten in Griechenland, den »Closed Controlled Access Centres« genannten Lagern, der Zugang für NGOs nicht gewährleistet und selbst für Rechtsanwält:innen in der Praxis oft eingeschränkt.
Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) könnte sich sogar EU-Asylverfahrenszentren in der Türkei vorstellen, wenn diese »wieder zu einem Rechtsstaatspartner wird«.
Die demonstrative Zustimmung der Bundesregierung zu den EU-Plänen ist vor allem innenpolitisch zu erklären. Die Kommunen wollen mehr Geld für die Versorgung von Flüchtlingen, Union und AfD kritisieren die Bundesregierung wegen angeblich zu laschen Grenzschutzes. Dabei ist die Anzahl von Erstanträgen auf Asyl zwar höher als im selben Zeitraum im Vorjahr, aber in den ersten Monaten des Jahres stark zurückgegangen: von 29 072 im Januar auf 19 629 im April. Doch das beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung nicht.
Demonstrativ harter Kurs
Und so sieht die Regierungskoalition sich veranlasst, einen demonstrativ harten Kurs einzuschlagen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) entwarf vor dem Flüchtlingsgipfel am 10. Mai in einem internen Papier einen umfassenden Plan für mehr Abschiebungen. Ganz wie einst Seehofer mit seinen »Ankerzentren« will die Bundesregierung demnach »zentrale Ankunftseinrichtungen« schaffen – aus denen Abschiebungen möglich sein sollen. Dazu sollen Haftplätze »in ausreichender Zahl« entstehen. Im Asylrecht soll die Zahl der Haftgründe für Asylbewerber erweitert werden, und ein Folgeantrag nach einem abgelehnten Erstantrag nicht mehr vor Abschiebehaft schützen. Die Höchstdauer des sogenannten Ausreisegewahrsams soll von zehn auf 28 Tage erhöht werden. Bei Abschiebungen sollen Polizisten künftig auch andere Räumlichkeiten als nur das Zimmer des Betroffenen in der Unterkunft durchsuchen dürfen.
Die Kommunen, die die – weiter ankommenden – Menschen aufnehmen müssen, schauen dabei in die Röhre. Beim Flüchtlingsgipfel am Mittwoch vergangener Woche im Kanzleramt in Berlin sagte der Bund für 2023 insgesamt eine Milliarde Euro zusätzlich zu. Das Geld reiche »höchstens für die Hälfte« der Flüchtlinge, sagte der Präsident des Städte- und Gemeindebunds in Niedersachsen, Marco Trips. »Der Bund lässt die Länder hängen und die Kommunen im Stich.«